So sehr es uns auch schmerzte, wir mussten einfach zu diesem Mittel greifen. Seitdem leben wir hier in Abgeschiedenheit, ohne das es jemals wieder jemand versucht hat, uns zu besuchen. Ihr müsst mir versprechen, dass, solange Saldera nicht besiegt ist, diese Legende aufrechterhalten bleibt. Es wäre der sichere Tod für viele gutmütige Leute, die es nur gut mit uns meinten und uns helfen wollten.
Aber lasst uns nun über unser weiteres Vorgehen beratschlagen. Ich war ziemlich überrascht, über was für eine Macht du zusammen mit dem Kristall gebietest. Als wir den Kristall in alten Geheimfächern entdeckten, wusste niemand etwas mit ihm anzufangen. Jahrzehntelang diente er nur als Tischschmuck, bis Montanella, du bist ihr bestimmt vorgestellt worden, Fähigkeiten entdeckte, die bisher niemand bemerkt hatte. Viele Elfen versuchten immer wieder, dem Kristall weitere Geheimnisse zu entlocken, aber niemandem ist es bisher gelungen. Dir ist es als Erste gelungen, solche Energien freizusetzen und damit selbst dem Herrscher der Unterwelt zu trotzen.”
“Aber ich weiß doch noch nicht einmal genau, wie ich das gemacht habe”, versuchte Sally zu widersprechen.
“Es kommt nicht nur darauf an, dass man weiß, wie man den Kristall einsetzen muss, entscheidend ist, dass du die Kraft besitzt, seine Energien freizusetzen und diese Kraft besitzt du augenscheinlich.”
Alle hatten gebannt Belonia zugehört, man hätte eine Stecknadel herunterfallen gehört, so ruhig war es nach den letzten Worten geworden.
“Man hat dir bestimmt von der alten Legende erzählt, die besagt, dass eine große Magierin reinen Herzens kommen und uns vom Bann der bösen Saldera befreien wird. Ich glaube fest daran, dass du diese Magierin bist.
Denke immer daran, man kann den Zauber des Kristalls nicht erzwingen. Nur wenn der Wunsch aus freiem Herzen mit dem Ziel Gutes zu tun kommt, wird der Zauber freigesetzt und du wirst unbesiegbar sein. Aber begehe nicht den Fehler, den Saldera begangen hat.
Wenn es auch den Anschein hat, dass du unbesiegbar bist, zu schnell könnte das Böse Macht über dich erlangen und sich deine Macht zu eigens machen und dann sind wir alle verloren. Versuche niemals, den Kristall gegen Unschuldige zu gebrauchen, es würde dein Verderben sein.”
“Dann sollten wir so schnell wie möglich versuchen, wieder auf unseren Weg zurückzukehren”, warf Sally ein. “Durch den Herrscher der Unterwelt haben wir eine Menge Zeit verloren. Kannst du uns den Weg nach draußen zeigen?”
Hoffnungsvoll blickten Sally und ihre Gefährten Belonia an.
“Das ist nicht so einfach”, antwortete Belonia. Wir dürfen uns nicht in die Angelegenheiten des Herrschers der Unterwelt einmischen, dafür lässt er uns in Ruhe. Dein Glück war, dass du mit Hilfe des Kristalls den Weg zu uns gefunden hast, aber wir werden einen Weg finden, euch den Weg nach draußen zu zeigen.”
Mit diesen Worten endete der offizielle Teil und es begann ein reger Austausch von Informationen. Insbesondere Sally musste immer wieder von ihrer eigenen Welt erzählen, die so fremdartig und unbegreiflich für alle anderen Anwesenden war, dass sie sich selber manchmal wie eine Magierin vorkam. Dabei waren Sachen wie Telefonieren oder Elektrizität noch die am einfachsten zu erklärenden Dinge, die trotzdem niemand verstand. Nichtsdestotrotz war es ein unterhaltsamer Abend, den alle genossen.
Zu fortgeschrittener Stunde brachte man Sally und ihre Freunde in vorbereitete Quartiere, die sich selbstverständlich auch in Stalagmiten befanden.
Nachdem sich Sally gewaschen und ein eigens für sie bereitgelegtes Nachtgewand angezogen hatte, legte sie sich ins Bett und war von einem auf den anderen Moment eingeschlafen. Sie fühlte sich so sicher in der Obhut der Bergtryaden, dass sie mit keinem Gedanken an irgendeine Gefahr dachte.
Schon kurz nachdem sie eingeschlafen war, begann sie zu träumen. Sie saß auf einem riesigen Drachen, der immer wieder Feuer spie, um angreifende schwarze Geier zu vernichten. Aber für jeden besiegten Geier kamen zwei neue hinzu. Der Kampf schien aussichtslos. Schon war sie von hunderten von Geiern umringt und es wurden immer mehr. Sie konnte den Himmel nicht mehr erkennen und es breitete sich Schwärze rund um sie aus. Dann erschien ihr das Gesicht Salderas zu einer grässlichen Grimasse verzogen. Sie rief ihr irgendetwas zu, was Sally nicht verstehen konnte. Verzweifelt versuchte sie ihren Kristall zu ergreifen, dieser entglitt ihr aber, als der Drache eine enge Kurve flog und sie sich hastig festhalten musste.
Sofort stürzten sich einige Geier auf den Kristall. Einer von ihnen packte ihn mit dem Schnabel und brachte ihn direkt zu Saldera, die schon gierig beide Hände nach ihm ausstreckte. Vergeblich versuchte der Drache, sich einen Weg durch die Angreifer zu bahnen. Dann wurde sie von der Seite von einem doppelt so großen Tier attackiert und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte vom Drachen, hinab in die Tiefe, hinein in einen riesigen Ozean. Sally rang nach Luft, hatte aber ganz schnell den Mund voller Wasser und musste husten.
Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass plötzlich Ziofotta vor ihr stand und eine Schüssel in der Hand hielt, aus der Wasser tropfte. Dann bemerkte sie, dass sie und ihr Bett pitschnass waren und sie immer wieder von einem Hustenreiz gequält wurde.
“Was ist los? Warum bin ich nass und warum stehst du an meinem Bett?”, fragte Sally immer noch nach Luft ringend.
“Entschuldige bitte”, antwortete Ziofotta, “aber anscheinend wurdest du von schweren Alpträumen heimgesucht. Ich habe fast eine halbe Stunde lang versucht, dich zu beruhigen oder dich aufzuwecken, aber es hat nicht funktioniert. Dann habe ich voller Verzweiflung die Schüssel mit Wasser über dich gegossen. Zum Glück bist du dann aufgewacht.”
“Ich habe gegen Saldera gekämpft. Sie hatte große Geier auf mich gehetzt und ich habe versucht, mich auf einem riesigen Drachen fliegend gegen sie zu verteidigen.”
Erschrocken griff sie nach ihrem Kristall. Ziofotta bemerkte die heftige Reaktion von Sally. “Was hast du?”
Hastig durchstöberte Sally ihre Sachen und atmete schließlich erleichtert auf. “Gott sei dank, er ist noch da!”
“Wer ist noch da?”, fragte nun Ziofotta beunruhigt.
“Na der Kristall, ich habe geträumt, Saldera hat ihn mir abgenommen.”
Wenngleich es hier, unter der Erde keine Sonne gab, schien es durch das Fenster hell herein. Irgendwie schien sich die Helligkeit den Tageszeiten außerhalb der Höhle anzupassen. Die Nacht musste vorbei sein und so beschloss Sally sich fertig zu machen, um mit den anderen zu frühstücken.
Schnurz wartete bereits mit knurrendem Magen am Essenstisch.
Nachdem sie gefrühstückt hatten, erschien Belonia und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Es war alles sehr geheimnisvoll.
Sie verließen zusammen mit Belonia das Zimmer und folgten ihr die Treppe weiter nach oben. Sie befanden sich jetzt schon fast in Höhe der Höhlendecke, als sie das Ende des Stalagmiten erreichten. Oben angekommen fanden sie sich auf einer Plattform wieder, die wie bei einem Burgturm, von einer Steinmauer umgeben war. In regelmäßigen Abständen war diese unterbrochen, so als befänden sich Schießscharten in ihr. Von hier oben hatten sie einen faszinierenden Blick über die gesamte Höhle. In weiter Ferne sah Sally auch wieder die Wächter fliegen.
“Hab keine Angst”, sagte Belonia. “Ich habe Befehl gegeben, dir nichts zu tun. Sie werden dich und deine Freunde wie eine von uns behandeln. Aber nun komm einmal her, ich möchte dir etwas zeigen.”
Belonia ging zur Mitte des Stalagmiten, wo sich ein reich verzierter Brunnen befand. “Dies ist der Brunnen der Weisheit. Es heißt, wer aus ihm trinkt, kann durch Wände hindurch sehen und die Zukunft voraussagen. Wunden werden geheilt und die Kräfte kehren zurück. Die Alterung wird gestoppt und man bleibt jung.”
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