“Oh nein!”, rief Schnurz. “Der Eingang! Schnell, sonst sind wir hier gefangen.” Aber es war bereits zu spät. Dort, wo vor wenigen Minuten noch der Eingang war, versperrte ihnen nun eine meterdicke Steinschicht den Weg nach außen. “Das wars dann ja wohl.” Seufzend ließ Schnurz den Kopf hängen. “Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Rest meines Lebens in einer kleinen Steinhöhle verbringen würde.”
Sally, die noch ganz benommen war, kam erst ganz langsam wieder zu sich. Ängstlich tastete sie nach der Hand, die in dem Spalt gesteckt hatte. Sie traute sich gar nicht, die Augen zu öffnen. Zu grausam kam ihr der Anblick einer zerfetzten Schulter vor. Dann spürte sie einen Widerstand und erkannte darin ihren Arm. Aber sie hatte kein Gefühl in ihm. Sally spürte in ihm nichts als Kälte. Schon dachte sie, den abgerissenen Arm ertastet zu haben und öffnete nun doch die Augen, um sich vom Schlimmsten zu überzeugen. Zunächst konnte sie nichts sehen, da einem der Staub die Sicht nahm, aber dann erkannte sie den Umriss ihres Armes. Erleichtert atmete sie auf, ihr war nichts geschehen. Dann kam ihr aber voll zu Bewusstsein, dass sie kein Gefühl mehr im Arm hatte. Leblos hing er an ihrer Seite herunter. Erst jetzt sah sie den jammernden Schnurz und realisierte erst ganz langsam, dass sie in der Höhle gefangen waren.
Hilflos sah sie sich nach Ziofotta um und entdeckte sie leblos auf der anderen Seite der Höhle. Sally stand auf und ging zu ihr hinüber.
“Ziofotta! Wach auf, bitte! Es ist vorbei!”
Doch sie rührte sich nicht. Sally begann nun etwas energischer zu schütteln. “So wach doch auf!”, rief sie. “Du kannst uns doch nicht alleine hier zurücklassen! Wir brauchen dich doch”.
Dann vernahm sie ein leises Stöhnen. Ziofotta kam zu sich.
“Was ist passiert? Was war das. Warum ?”
Verwirrt blickte sie sich um.
“Gott sei Dank du bist am Leben!”, rief sie plötzlich aus und fiel Sally um den Hals. Sie wollte die Umarmung erwidern, konnte aber nur einen Arm bewegen. Ziofotta bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte und blickte auf den leblos da hängenden Arm.
“Hast du Schmerzen?”, fragte sie und tastete vorsichtig nach ihm.
“Das nicht, aber ich spüre nichts als Kälte in meinem Arm und kann ihn auch nicht mehr bewegen. Er fühlt sich an, wie ein Fremdkörper. Es ist ein Gefühl, wie wenn der Arm eingeschlafen ist, wenn du während des Schlafes lange Zeit auf ihm gelegen hast, nur schlimmer, denn die Kälte in ihm scheint sich immer mehr in meinem Körper auszubreiten.”
Ein eisiger Schauer lief Sally bei diesen Worten über den Rücken.
“Das muss noch immer der Atem des Herrschers der Unterwelt sein. Wir müssen schnell etwas unternehmen, bevor er ganz von dir Besitz ergreift.” Ziofotta blickte bei diesen Worten besorgt drein und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es nicht gerade gut um Sally stand. Nun kam auch Schnurz angelaufen.
“Ziofotta hat recht”, sagte er mit trauriger Stimme. “Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, wird dass Böse Besitz von dir ergreifen und du wirst für immer verloren sein.”
Sally hörte zwar die Worte, aber wollte die Bedeutung dessen einfach nicht wahrhaben. Gerade noch war sie nur knapp dem Tode entronnen, um nun festzustellen, dass sie einem viel schlimmeren Ende entgegen ging.
“Aber es muss doch ein Gegenmittel geben!”
Ein Kloß schnürte ihr den Hals zu und sie konnte nur noch mühsam die Tränen unterdrücken.
“Es gibt ein Gegenmittel, aber es ist bisher noch keinem Sterblichen geglückt, es von den Bergtryaden zu bekommen.”
Die letzten Worte hatte Schnurz nur noch geflüstert, so als erwarte er jeden Moment von einer unsichtbaren Hand ergriffen zu werden.
“Aber dann müssen wir sofort versuchen, diese Tyraden zu finden!”
Sally wollte schon voller Ungeduld losrennen, wurde aber gerade noch von Ziofotta zurückgehalten.
“Sie heißen Tryaden und du kannst nicht einfach losstürmen, um sie zu suchen. Wer sie sucht, hat sie noch nie gefunden, aber der, der sie fürchtet, wird von ihnen gefunden. Außerdem hast du Schnurz scheinbar nicht richtig zugehört. Es hat noch nie jemanden gegeben, der etwas von den Bergtryaden bekommen hat. Wer ihnen begegnet ist, ist nie wieder zurückgekommen.”
“Aber ich habe doch gar keine andere Wahl!”
Sally war nun wirklich den Tränen nahe. “Ihr habt doch selbst gesagt, dass sie meine einzige Hoffnung sind. Ihr könnt ja hier bleiben, ich jedoch werde versuchen, die Bergtryaden zu finden.”
Mit diesen Worten drehte sie sich um und stürmte los in die Dunkelheit. Schnurz und Ziofotta wollten noch etwas erwidern, aber schon war sie verschwunden.
Sally hatte rein instinktiv gehandelt. Sie konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, dem Bösen zu verfallen. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander und als sie schließlich stehen blieb und sich umsah, hatte sie sich schon weit von ihren Freunden entfernt. Ein mattes Dämmerlicht umgab Sally, dessen Herkunft unerklärlich war und es herrschte eine unheimliche Stille. Sie konnte förmlich ihr Herz schlagen hören. So sehr sich Sally auch anstrengte, vernahm sie kein anderes Geräusch, als ihren eigenen Atem. Panik machte sich in ihr breit. Urplötzlich wurde ihr bewusst, dass sie alleine war.
“Schnurz! Ziofotta!”
Dumpf hallte ihr Ruf durch den Gang, durch den sie gelaufen war, doch es kam keine Antwort. Es war, als ob jeder Laut von etwas unsichtbarem verschluckt wurde. Sally rief noch einmal, bekam aber auch jetzt keine Antwort. Zögernd ging sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sich selbst zur Ruhe zwingend versuchte sie sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, ob sie auf ihrem Weg an irgendwelchen Abzweigen vorbei gekommen war, konnte sich aber an keinen erinnern. Dann beschleunigte sie ihre Schritte. Als sie um die nächste Ecke bog, blieb sie abrupt stehen. Der Gang teilte sich hier in drei Richtungen. Alle sahen sie gleich aus. Kalter Schweiß stieg ihr auf die Stirn. “Das kann doch nicht sein!”
Sally überlegte einen kurzen Moment und trat dann in den mittleren Gang hinein, drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war. Das Dämmerlicht machte es allerdings unmöglich, Einzelheiten zu erkennen. Von hier aus schien der vor ihr liegende Gang in gerader Linie weiterzugehen. Sie machte den gleichen Test mit dem zweiten und dritten Gang, immer mit dem gleichen Ergebnis. Es war ihr unmöglich, den Gang zu bestimmen, aus dem sie ursprünglich gekommen war. Niedergeschlagen kniete sie sich nieder, um sich auszuruhen und eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht war es ja einfach besser, hier zu warten, bis Schnurz und Ziofotta kamen, um sie zu suchen. Aber was, wenn es noch mehr solcher Abzweige schon viel früher gab? Wie sollten sie sie dann finden? Auf einmal hörte sie Stimmen, ganz leise nur und in scheinbar weiter Entfernung, aber sie waren da. Ihr erster Impuls war aufzustehen und laut zu rufen, doch dann bemerkte sie, wie die Stimmen lauter wurden und es nicht nur zwei sondern noch mehr waren. Die Stimmen kamen aus der Richtung, aus der sie gerade gekommen war. Es konnten also gar nicht Schnurz und Ziofotta sein. Waren das etwa schon die Bergtryaden?
Sie sprang auf, um in die Richtung zu stürmen, aus der die Stimmen kamen, besann sich aber dann doch noch eines besseren. Was, wenn es stimmte, was ihr Schnurz und Ziofotta über die Bergtryaden erzählt hatten? Sie sollte erst einmal versuchen, etwas über die herannahenden Personen herauszufinden. Ihre Finger tasteten nach dem Kristall, um sich mit seiner Hilfe den Bergtryaden körperlos zu nähern. Er fühlte sich warm an und ein schwaches Licht pulsierte tief in seinem Innern. Sally schloss ihre Augen und begann sich darauf zu konzentrieren, ihren Körper zu verlassen, um mit ihrem Geist den Herannahenden entgegen zu gehen. Der Kristall wurde immer wärmer in ihrer Hand und begann zu pulsieren. Ruhe breitete sich in Sally aus. Sie versuchte, wie schon die Male zuvor, ihren Geist vom Körper zu trennen, aber es gelang ihr nicht. Stattdessen vernahm sie die Stimmen jetzt deutlich in ihrem Kopf. Es schienen drei weibliche Personen zu sein, die sich zwanglos unterhielten.
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