Da war niemand. Kein Mensch war mir gefolgt. Ich schritt ruhig zu meinem Hotel. Nur wenige Autos und Passanten begegneten mir, in der Ferne hörte ich Sirenen und ich versuchte stets kleine, enge Seitengassen zu benutzen. Schon sehr bald fand ich mich vor dem bescheidenen, schlecht beleuchteten Eingang meines Hotels wieder. Von Außen wirkte es wirklich nicht sehr ansprechend. Auf beiden Seiten der Pforte wuchsen Stauden aus dem Boden, die am Tage automatisch gewässert wurden.
In dem hellen Foyer würde der Lauf des Gewehres, der noch aus meinem Rucksack spähte, aber sofort auffallen. Ich warf den Rucksack kurzerhand zwischen das Gewächs neben dem Eingang und lief die Treppen hoch zu meinem Zimmer. Erschöpft leerte ich dort meinen Koffer aus und warf die Kleidung ungeordnet aufs Bett. Den leeren Koffer trug ich wieder nach unten. Freundlich nickte ich der Empfangsdame zu, als ich die Eingangshalle durchquerte. Der Schein des Lichts war auf eine ganz besondere Weise unangenehm und ich war froh, als ich das Gebäude verlassen hatte. In meinem eigenen Schatten erkannte ich meinen Rucksack zwischen den Sträuchern nicht mehr und trat aus Versehen auf ihn. Es knackte und ich hörte Stimmen, die langsam näher kamen. Ich bückte mich, machte mich winzig klein. Unter mir lag mein Rucksack mit dem Scharfschützengewehr und daneben mein leerer Reisekoffer. Ich duckte mich in eine unbequeme Position, in der ich locker selbst in den Koffer gepasst hätte. Ein junges Paar schlenderte angetrunken auf dem Bürgersteig. Der Mann stützte seine Freundin, sprach ihr etwas Unverständliches zu, doch sie stolperte über ihre eigenen Beine und fiel hin. Sie landete mit den Knien und den Handgelenken unsanft auf dem Betonpflaster. Ich vergrub meinen Kopf und schloss meine Augen. So konnte ich nur hören, wie die Frau in gepflegtem, aber alkoholbedingt zähem Englisch sagte: „Hey, what´s lying over there?“
Ihr Freund half ihr beim Aufstehen und tat sich bei den Worten „Nothing. Doesn´t matter. Let´s go to the room“ ausgesprochen schwer. Doch es reichte aus, um die betrunkene Frau in die Empfangshalle des Hotels zu schleppen.
Mir hing immer noch mein Unterkiefer bis zum Bauchnabel, als ich, fast ohne mich zu bewegen, den Reißverschluss des Koffers öffnete und den Rucksack darin verschwinden ließ. Mit dem verschlossenen Koffer sprang ich auf, klopfte mir schnell die Erde aus der Hose und hüpfte über die Granitstufen in das Hotel. Ohne an die Rezeption zu blicken rollte ich den Koffer zum Aufzug und wartete dort auf den Lift.
Wieder in meinem Zimmer angekommen fiel mir ein, dass ich den Brief, den ich bekam, noch nicht vernichtet hatte. Ich zerriss das Foto und den dazugehörigen Steckbrief in zig kleine Fetzen und spülte einen Teil in der Toilette und den anderen Teil im Waschbecken hinab. „Ich hätte das schon vorher tun sollen“, murmelte ich vor mich hin. Da fiel mir mein nächster, viel schlimmerer Fehler ein. Meine blaue Kappe lag noch auf dem Dach des Firmengebäudes in der Sam Yot! Ich muss so in Gedanken gewesen sein, dass ich sie einfach dort vergessen hatte. Verdammt!
Aber auf dem Dach findet es so schnell keiner und außerdem habe ich von dort oben gar nicht geschossen. Es war eine typische, unbestickte Kappe aus China, wie sie überall in Deutschland und auch vielen anderen Ländern zu kaufen war. Die Haare, die man dort finden könnte, würden mir nicht so schnell, wahrscheinlich sogar nie zugeordnet werden können. Oder?
„Egal“, sagte ich mir. „Wer viel Angst hat, muss sich nur viel fürchten.“ Ich wollte das Gewehr wieder im Schrank verstecken und montierte dazu die Rückplatte ab.
Zu meiner Überraschung fand ich darin ein Flugticket nach Deutschland für den nächsten Tag.
„Gut, dass ich noch keines beordert habe.“ Mit einem zufriedenen Grinsen legte ich es auf den Tisch und stellte den Koffer mit der G22 in das geheime Schrankfach. Auch das Feuerzeug legte ich zurück. Dann schraubte ich die Platte mit meinem Taschenmesser wieder davor.
Ich stellte mir einen Wecker und legte mich schlafen, nachdem ich alles in den Koffer packte, was nicht mehr von mir benötigt wurde. Am nächsten Morgen checkte ich dann spät aus dem Hotel aus, um möglichst kurz am Flughafen warten zu müssen.
Jetzt sitze ich im Flieger nach München und tippe diese Mail. Neben mir sitzt ein verliebtes italienisches Pärchen, das nicht den Eindruck macht, als könnte einer der beiden lesen was ich in mein Smartphone schreibe, wenn sie es überhaupt sehen würden. Zu meiner anderen Seite ziehen Wolken vorbei. Ein Bild, das mich wohl auch noch die nächsten sieben der insgesamt zehn Flugstunden begleiten wird.
„Zehn Stunden dauert der Flug von Bangkok nach München“, sagte Lara zu ihrer Katze, die nur kurz mit den Ohren zuckte und sich im gemütlichen Schlaf auf der eigens für sie gekauften Wolldecke nicht weiter stören ließ. Dann verzog Minka unruhig den Mund, als das nervige Tippgeräusch durch den Raum klapperte. Lara suchte etwas im Internet.
„A ha“, sagte sie. „Wenn es bei uns zwölf Uhr mittags ist, dann ist es in Bangkok gerade nachmittags um fünf. Das heißt, jetzt schlafen die schon alle. So wie du, Minka!“ Die Katze zuckte wieder nur kurz und döste danach gleich weiter.
Stille Sekunden flogen durch den Raum.
Lara saß noch in Trance auf ihrem Drehstuhl, überlegte weiter.
„Was mir nicht so richtig in den Kopf gehen möchte“, begann sie zu sich selbst zu sprechen. „Wieso schreibt dieser Mann ein... Ein Tagebuch als E-Mail an eine... Vermutlich an eine Zweitadresse? Ein sentimentaler, nachdenklicher Auftragskiller? Täusch´ ich mich? Da sind doch Fehler und Komplikationen schon vorprogrammiert. Wieso macht er das? Oder ist es doch nur Spam? Nein, da möchte jemand sein Tun dokumentieren, nicht vergessen. Aber zu Zeiten, in denen staatliche Sicherheitsbehörden fast überall mitlesen könnten, scheint das nur noch dumm.“
Die Antwort konnte Lara freilich nur erahnen. Ausmalen, so wie die Mail, die sie sich in ihren Kopf saugte, konnte sie sie aber nicht.
Lara in der Arbeit. Donnerstag Vormittag.
Ingrid stand von ihrem Stuhl auf und ging aufs Klo. Lara konnte nicht wissen, ob es ein größeres oder doch nur ein kleineres Geschäft werden würde und so war ihr Zeitfenster womöglich stark limitiert. Auch Daniela war nicht in ihrem Büro. Sie lief kurz zu einem Bäcker, um sich ein zweites Frühstück zu kaufen. Leise und auf Unauffälligkeit bedacht schlich Lara in Danielas Zimmer. Sie spürte, wie ihr Blut vor Anspannung stärker durch die Adern gepumpt wurde.
Und sie wusste rein gar nicht, was sie sagen sollte, wenn sie jemand erwischte.
Aber sie wusste, dass Daniela täglich ihre Pille konsumierte.
Und eben diese Packung lagerte ungeschützt im zweiten Schub ihres Büroschreibtisches. Langsam zog Lara ihn auf, nahm leise die Tabletten heraus und notierte sich Hersteller- und Produktnamen neben einer exakten Zeichnung des Musters aller entnommenen Tabletten auf einem kleinen Zettel.
„Zweiter Schub“, kritzelte sie mit verbaler Begleitung darunter, dann legte sie die Tabletten sorgsam zurück und schob sich Zettel und Stift wieder in die Hosentasche.
„Suchst du was?“ Daniela stand in der Tür und biss in ein Croissant.
„Was?“ Es schoss aus Laras Mund wie ein ausgelöster Airbag und sie bekam kurzzeitig keine Luft mehr.
„Suchst du was?“, wiederholte sich Daniela und sie lächelte wie eine ganze Kindergartengruppe beim Fotografen.
„Ja. Ja, ich habe was gesucht. Hat sich schon erledigt.“
„Na gut“, meinte Daniela und Lara hasste sie für diese frohe, stets sympathische Art. Wenigstens war sie naiv.
„Sag mal, wusstest du dass Margarete schwanger ist? Schon ziemlich lange sogar!“
„Was?“
„Wusstest du dass Margarete...“
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