Wenigstens bin ich nicht lange hier. Morgen wird alles erledigt sein. Die Zielperson, der Auftrag.
Ich bin auf jeden Fall schon sehr gespannt wie es sein wird. Werde ich zögern? Werde ich etwas fühlen? Angst habe ich keine, gar keine mehr.
Ausgenommen Jana. Ihr Verlust ist die einzige Angst, die mich quält.
„Was soll denn das?“, murmelte Lara vor sich hin. Sie verzog ihre unförmige Nase, als wäre in ihrem Büro vor Tagen eine Kanne Milch ausgelaufen, löschte die Mail und erhob sich von ihrem Platz. Ihre Brotzeit ließ sie weiterhin unberührt, denn eine ganz neue, aus Angst und Hass geborene Idee animierte sie aufs Geratewohl. Unauffällig schlich Lara in Danielas Büro.
Es war menschenleer.
Ingrid, ihre andere Arbeitskollegin, arbeitete nur noch halbtags und war schon vor fünfzehn Minuten gegangen. Leise umkurvte Lara den klobigen Metalltisch, der makellos und sauber mittig im Büro stand. Aktenschränke apparierten wie schlagfertige, aufmerksame Türsteher vor den Wänden, während konträr dazu ein natürlicher, frischer Duft friedlich in dem Büro lag. Der gleiche wohltuende Geruch, der auch mit Daniela schwang.
Ganz langsam zog Lara die zweite Schublade aus ihrem Schreibtisch. Ein ungleichmäßig lautes und ungewolltes Kratzen begleitete die Aktion, denn der Schub war schwer und die Rolllager alt. Ein Stapel von unausgefüllten Papierbögen und einige Rollen Klebestreifen hatten darin ihren Platz. Seitlich verstaute Daniela ein Bild ihrer Mutter.
Lara nahm es kurz an sich und legte es mit der Rückseite nach oben vor die Tastatur des Computers. Sämtliche Passwörter waren auf der weißen Fläche notiert. Mit feuchten Händen weckte Lara den Rechner aus seinem Standby-Modus und loggte sich unter Danielas Account im Betriebssystem ein. Sie öffnete sofort das verwaltungsinterne E-Mail-Programm und fand eine neue Nachricht vor. Ein Kollege bat sie um die Vorlage der Statistiken für Baugenehmigungen auf einem alten Kasernengelände. Das verwirrte Lara zunächst ein wenig, da Daniela gar nicht für solche Belange zuständig war. Doch dann fuhr sie fort, machte mit schnellem Atem weiter.
Sie stellte zuerst die Uhrzeit des Systems um zwanzig Minuten zurück, deklarierte die Nachricht anschließend als `Gelesen` und löschte sie. Nachdem sie die Uhrzeit wieder korrigierte, meldete sie Daniela von ihrem Computer ab, platzierte das Bild ihrer Mutter an seiner Stelle im Schub und flüchtete geduckt in ihr eigenes Büro zurück.
„Das reicht für heute“, murmelte sie mit rasendem Herzschlag vor sich hin und konnte sich nicht zwischen einer ängstlichen Mimik und einem siegesgewissen Grinsen entscheiden.
„Oh, nein“, stöhnte Lara gedanklich, als sie ihre nassen Hände an den Hosenbeinen trocknete. „Ihre Maus wird ganz feucht sein!“
Und in Laras Gesicht blähte sich schlussendlich doch noch der latente Ausdruck schüchterner Angst auf.
Weg zur Arbeit. Lara. Am Morgen
Ein früher, aber warmer Sommerwind wehte durch die alten, einst feudalen Gassen und Straßen. Heute waren sie nur noch einfache Fußgängerzonen und die letzten perforierten Stellen der malerischen Fassaden wurden mit Werbeplakaten und Straßenschildern gestopft. Prunkvolle Bauten mit weißen Stuckelementen säumten den breiten, gepflasterten Weg, über den Lara schritt. Der markante Geruch von Zaziki kroch aus einer Dönerbude direkt in ihre Nase.
„Werde ich nächste Woche noch oft genug riechen“, dachte sie sich laut. Unbeeindruckt marschierte sie weiter. Und sie machte große, zügige Schritte.
In etwa 50 Metern Entfernung bog ein junger Mann in die Straße. Er war eindeutig südländischer Herkunft und schien in Eile zu sein. Während hinter ihm die schwache Sonne um ihren Aufstieg zum Zenit kämpfte, drangen die lauten Schrittgeräusche des attraktiven Anzugträgers bereits zu Lara. Ohne Zweifel, es war nicht zu übersehen, dass sie den jungen Mann ausgesprochen hübsch und interessant fand. Sie lächelte sogar ein wenig und es stand ihr sehr gut. Doch dann durchschnitt ein fahler Gedanke die Stricke an denen ihre sympathische Ausstrahlung wie eine nackte Marionette hing und hinterließ die typische Visage einer betrübten, leicht dicklichen Frau, die ungern ihr wanderndes, mattes Spiegelbild in den Schaufenstern links und rechts von ihr betrachtete.
Wenn sie so einen attraktiven Mann sah, dann verstrickte sie sich meist in warmen, weichen Wünschen. Aber dann der Fehler. Der intrinsische Blick nach links oder rechts auf die Schaufenster. Und da sah sie sich selbst, unauffällig und hässlich. Immer noch. Jeder Blick voller Hoffnung, vielleicht nun schön zu sein. Und jeder Blick Enttäuschung. Spirale der Verzweiflung. Sich selbst ein Dorn im Auge.
Und trotzdem!
Dieses Mal packte sie all ihren Mut. Sie spürte ihn schon fest in ihren Händen, als sie sich die Frage stellte, was sie damit tun sollte. Sie konnte ihn doch nicht einfach ansprechen, den jungen Mann, der immer näher kam.
Mit weit geöffneten, ängstlichen Augen sah sie ihn an. Es war kein ungewöhnlicher Blick für Lara. Sie spähte meistens so durch die Gegend wenn sie unterwegs war. Ihren wachsamen Augen entging auf diese Weise nur selten eine Person, die sie hätte anlächeln können. Nur im Winter, oder wenn ein besonders kalter Wind blies, trieb es ihr Wasser aus den weit offenen, gereizten Augen und sie kniff sie zusammen.
Nichtsdestotrotz kam der junge Mann mit Aktentasche näher. Schon gleich würde er Lara passieren und dann wird es wieder zu spät gewesen sein etwas zu tun.
„Wohin des Wegs?“, „Schöner Anzug!“, „Entschuldigung, wissen Sie wie ich zum Bahnhof komme?“. Diverse Sätze gingen Lara durch den Kopf. Manche waren mehr, manche weniger dazu geeignet, irgendeine Kommunikation zustande zu bringen. Er sah sie ja nicht einmal an, fokussierte sich nur mit seinem inneren Auge auf sein Ziel, vielleicht seine Arbeit, bei der er schon längst hätte sein müssen. Man wusste es nicht.
Es kitzelte Lara in den Fingern, war kurz davor aus ihr herauszubrechen. Und mit einem dementsprechend verkrampften Eulenblick visierten ihre Augen den jungen Mann beim Vorübergehen an.
„Halt“, schrie Lara dann plötzlich und sie klang schon fast aggressiv, auch wenn es ungewollt war. Dem jungen Mann waren schnellen Schrittes zwei Blätter Papier entwichen. Sie waren aus seiner Aktentasche gefallen, die offensichtlich nicht ganz geschlossen war, und flogen nun wild durch die Luft. Überrascht drehte er sich im Gehen um und runzelte kopfschüttelnd seine Stirn, als er Lara am Boden knien und nach den Zetteln fischen sah. Sie schielte zu ihm hinauf und wollte ihn eigentlich noch dazu animieren, stehen zu bleiben. Doch der Anzugträger drehte seinen Kopf wieder zurück. Als hätte er Angst oder Abscheu gegenüber Lara empfunden. Vielleicht war ihm auch die stark verunreinigte Haut auf ihrer Stirn aufgefallen. All die Makel übertünchten ihre Persönlichkeit, passten ihren Charakter im Laufe der Zeit aber auch daran an.
Ein herber Rückschlag für sie. Das machte sich auch in ihrem Ausdruck sichtbar.
„Scheiß Wichser“, murmelte sie gekränkt und stand mit den beiden Papieren in der Hand auf.
„Das hast du davon.“ Sie hielt zwei leere Steckbriefe in den Händen. Die Papiere sahen aus wie Arbeitsblätter für eine Schulklasse im anfänglichen Mittelstufenbereich.
Kurzerhand faltete sie die Blätter und steckte sie in ihre Handtasche, ehe sie mit eingezogenem Genick weitermarschierte.
Rot leuchtete es und sie mussten stehen. Eine dicke arabische Frau, ganz in schwarz gehüllt und mit einem Kinderwagen, stand neben dem Pfosten der Ampel. Rechts von ihr zwei junge Mädchen, nicht älter als elf oder zwölf Jahre. Beide hatten langes, blondes Haar. Das etwas größere Mädchen bezauberte nebst ihren Haaren mit ihren himmelblauen Augen, während ihre Freundin ein unwiderstehliches Lächeln im Gesicht sitzen hatte. Zwei hübsche, liebe Mädchen, die auch sofort den pubertären Teenager rügten, der in seiner Baggy-Jeans bei Rot über die Ampel humpelte.
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