Lara stellte sich mit anderthalb Metern Abstand hinter die wartenden Personen. Verbissen beobachtete sie die beiden Mädchen. Es war ein hässlicher Blick, der sich über die Kinder legte. Er war gezeichnet von Eifersucht und bei genauerem Betrachten auch von Selbstmitleid.
Laras Wohnung. Mittwoch Feierabend
Die Kleider waren exakt geordnet. Es gab ein Fach für ärmellose schöne Klamotten und eines, in dem ärmellose Sachen für zuhause lagen. Darunter stapelten sich dünne, langärmelige Sweatshirts und daneben dicke Pullover. Lara legte ein gefaltetes T-Shirt in das oberste Fach und schloss den hellen, neuen Holzschrank. Sie hatte bei ihrem Umzug damals keine Möbel von zuhause mitgenommen.
Ihre Katze schmiegte sich an ihre Beine und tunnelte sie. „Minka, hast du immer noch Hunger?“
Lara ging in die Küche und holte eine bunte Schachtel mit Katzenfutter aus einer Ecke hervor. Sie füllte ein wenig davon in eine schwarze, flache Schüssel und stellte sie auf den Boden. Während Minka tiefe, unregelmäßige Geräusche beim Fressen von sich gab, streichelte Lara zärtlich ihr Fell vom Kopf bis zum Schwanz. Und nachdem ihre Katze das zweite Feierabendmahl verzehrte, setzte sich Lara am Balkon auf ihren alten Schaukelstuhl aus Bambus. Die Sonne war schon lange hinter dem Nachbargebäude verschwunden, doch der Himmel leuchtete noch schwach violett und rosa. Erleichtert ließ sich Lara von ihrem Stuhl bewegen, der immer im selben Takt ein kurzes, knarzendes Geräusch von sich gab. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein und aus.
Aber schon nach wenigen Sekunden störte ein Vogel auf dem Geländer des Balkons ihre innere Ruhe. Eine junge Blaumeise pfiff, bis sie erschrocken Minka hinter der Balkontüre erkannte und davonflog. Lara senkte erneut entspannt ihre Lider und reflektierte den Tag. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Rechner abstürzte, als sie gerade ein lästiges, neues Programm-Update installieren wollte. Herr Kratzinger, der Abteilungsleiter, beseitigte zum Glück alle Unannehmlichkeiten binnen weniger Minuten.
Lara musste an ihren Vater denken. Er war nie da, wenn er solche Probleme für sie hätte lösen sollen. Wenn sich ein Scharnier ihres Schrankes nicht mehr einwandfrei bewegte, oder die Kette ihres Fahrrades aus dem Zahnrad sprang, dann war ihr Vater nie da.
Als ihre Nachbarin, Michaela, mit fünfzehn Jahren einen Roller fuhr und Benzin aus einer Cola-Flasche einfüllte, da fiel ein Plastikring des Verschlusses in den Tank. Kurze Zeit stocherte sie mit einem Holzspieß blind und erfolglos darin herum. Schon sehr bald aber war Michaelas Vater zur Stelle und füllte den Tank weiter auf, bis das Plastikteil so weit oben schwamm, dass man es problemlos herausfischen konnte. Als Lara das damals beobachtete, wurde ihr, wie so oft, auf schmerzliche Art und Weise bewusst, wie sehr ihr ihr Vater fehlte. Und sie benutzte die Erinnerung an diese Szene noch heute gelegentlich als Quelle einer Selbstmitleidsorgie.
Laras Vater war Maschinist eines Transportschiffes. Als sie zwei Jahre alt war heuerte er bei einer bayerischen Reederei, an sich schon eine Rarität, an und sorgte seitdem dafür, dass verschiedenste Baugrundstoffe, wie Kies, Sand, Ziegelsteine und etliches mehr sicher von Europa nach Südamerika und zurück transportiert werden konnten. Das ganze geschah natürlich auf Kosten seiner Familie. Laras Mutter, Susanne, war bei vielen Problemen ebenso auf sich alleine gestellt, wie Lara. Beide brauchten jemanden als Stütze, konnten sich jedoch selbst nicht nützen.
Dieser kalte Mantel des Selbstmitleids hatte sich schon wieder um Laras Schultern gelegt. Er erzeugte eine sanfte Gänsehaut, ließ andere Körperstellen dadurch aber wieder wärmer erscheinen. Ein Geräusch aus der Nachbarwohnung holte Lara aus ihrem Gedankennetz. Jemandem war etwas Schweres, vielleicht eine Pfanne, zu Boden gefallen. Zumindest klang es so.
Lara korrigierte ihre krumme Position, die sie während ihrer Erinnerungen an ihren Vater im Schaukelstuhl einnahm. Sie kratzte sich am Ohr und dachte an die E-Mail, die sie auch heute Vormittag in der Arbeit erhalten hatte. Sie war eigentlich schon am Abend zuvor eingegangen. Aber wieder vom gleichen Absender. Schon wieder!
Neugierig verließ sie den Balkon, pfiff zu Minka und ging in ihr Schlafzimmer, in dem sich auch ihr Computer befand. Gerade als sie es betrat, klingelte plötzlich ihr Telefon und Lara nahm nichtsahnend den Hörer ab.
„Ja?“
„I grüß dich mein Kleine. Wie geht dir?“
Ihre Mutter. Augenblicklich war Lara von ihr genervt.
„Es geht mir gut.“ Das war schon immer die einfachste und sicherste Antwort.
„Das´t schön“, sagte Laras Mutter und stieß auf.
„Weshalb rufst du an?“
„Ich wollt dich dran erinnern, dass der Sonntag der, der...“
„Der Flieger“, half ihr Lara.
„Ja, dass Sonntag der Flieger geht.“
„Ja Mama“, stöhnte sie laut ins Telefon. „Ich vergesse doch nicht eine ganze Woche Urlaub!“
„Gut. Ja, ich ollt boß no mal...“ Ihre Artikulation erlaubte es gelegentlich nicht sie einwandfrei zu verstehen und auch wenn Lara schon alleine aus langjähriger Erfahrung wusste, was Susanne gesagt hatte, störte es sie enorm.
„Beweg´ doch bitte deine Lippen, wenn du mit mir sprichst“, presste sie energisch und laut ins Telefon. Durch solche Äußerungen war sie stets darauf bedacht, selbst so deutlich wie möglich zu sprechen, fast wie eine Nachrichtensprecherin.
„Ja“, sagte ihre Mutter zögerlich und in einem windigen Tonfall. „Aso ich ollt nur, ich hab nur gmeint. Weil so ein teuriges Geschenk.“
„Was? Wieso hast du mir überhaupt so ein teures Geschenk gemacht?“
„Ich ollt dir eine Freude geben. Damit wir veicht wieder, wieder näher mit... Ein miteinander haben.“
„Du bist ja witzig“, sagte Lara trocken und ironisch. „Du schickst mich eine Woche alleine in die Türkei damit wir wieder zueinanderfinden?“ Sie presste ein abwertendes, aber gekünsteltes Lachen aus ihrer Brust. Und obwohl sie von Susanne wirklich genervt war, tat es ihr Leid, ihr gut gemeintes Geschenk so durch den Dreck zu ziehen.
„Entschuldige“, sagte sie, nachdem ihre Mutter nichts anderes als ein schwaches, selbstkritisches „Aber, aber, stimmt...“ herausbrachte.
„Ich freue mich auf den Urlaub. Danke Mama.“
„Ja? Das´t schön.“ Sofort hörte sich Susannes Stimme wieder wie eine sanft gestrichene Harfe an.
„Bringst dann am Samstag die Katz zu mir?“
„Wieso zu dir?“ Lara hatte diesen bissigen Ton ihrer Mutter gegenüber schon vollständig verinnerlicht.
„Ja, ja“, sagte sie sofort. „Ich bring sie dir vorbei.“
„OK. Wann ungefähr?“
„Weiß ich noch nicht. Lass dich überraschen. Bis Samstag.“
„Schüss.“ Da hatte Lara schon aufgelegt. Es tat ihr wirklich weh, doch sie glaubte, sie müsse gemein zu ihrer Mutter sein, um eine Veränderung bei ihr zu bewirken. Leider blieb ihr Handeln bislang stets erfolglos.
Lara setzte sich an den hellen Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer, klopfte mit den Fingern auf die Maus, während ihr Computer startete, und sah nach dem Ladevorgang in ihr E-Mail-Postfach. Zügig öffnete sie die Nachricht, die sie schon in der Arbeit entdeckt hatte.
Es war schon merkwürdig. Diese rätselhafte Mail mit einem aktuellen Datum als Betreff war schon wieder vom gleichen Absender und fand aus irgendeinem Grund den Weg in ihr Postfach. Sie sah nicht aus wie gewöhnlicher Spam. Keine ausländischen Schriftzeichen, keine Anhänge oder Links und auch keine kurz gehaltenen Flirt-Versuche auf Englisch. Lara dachte sich dennoch nicht allzu viel und scrollte am Vormittag bereits einmal schnell vom Anfang bis zum Ende. Die Mail war ungewöhnlich lange und so begann Lara erst nun am Abend gespannt zu lesen.
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