»Ich hab' mir das genauso wenig ausgesucht wie jeder andere auf dem Schiff! Und wenn du unbedingt sterben willst, wenn es nicht unbedingt sein muss«, fuhr er sie weiter an, den Finger auf sie gerichtet, »dann tu' dir keinen Zwang an und bring dich selber um, ich werd' dich daran nicht hindern!«
Er machte eine Pause, um sich selber zu beruhigen, und um Wanabe Zeit zu geben, die offensichtliche Überraschung zu überwinden, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. Schließlich fuhr er in einem wesentlich ruhigeren Tonfall fort: »Aber als sogenannter Captain, zu dem ich gewählt worden bin, unter anderem auch von dir« funkelte er sie an, »befehle ich dir erstens, dein Hirn anzustrengen, und dich mal über die Situation zu informieren, bevor du in aller Öffentlichkeit auf mich losgehst, und dich zweitens, falls dir vielleicht doch was an deinem Leben liegt, in diese ganze Sache reinzuhängen, wie du nur kannst, denn noch so eine Gelegenheit wie diese kriegen wir mit absoluter Sicherheit nicht wieder, das steht fest!«
David verspürte die dringende Lust, sein Gegenüber zu schlagen, trat stattdessen jedoch heftig gegen die Wand, um seine Aggressionen abzubauen. Schließlich, als sich beide einige Sekunden lang angeschwiegen hatten, brach Wanabe das Schweigen.
»Es tut mir leid.« Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sank langsam an der Wand hinunter in die Knie. »Es ist alles so sinnlos.«
»Es ist immer einfacher, den Kopf in den Sand zu stecken, als etwas zu riskieren«, erwiderte David schließlich. Er selbst hatte diesen Gedanken mehr als nur einmal gedacht und hatte eine ungefähre Ahnung davon, was in Wanabe vorging. Auf ihren fragenden Blick hin ergänzte er:
»Die Sicherheit zu sterben ist eine fabelhafte Sache. Es bleibt nichts anderes mehr übrig. Aber wenn man vor die Wahl gestellt wird, zu sterben, oder etwas zu riskieren, bei dem man wahrscheinlich auch stirbt … dann kneift man irgenwann.« Lächelnd begab er sich neben Wanabe in dieselbe Position wie sie.
»Warum?«, fragte er.
Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander. David blickte, in Erwartung einer Antwort, die Luft vor sich an. Er wurde sich dabei gleichzeitig bewusst, wie müde er eigentlich war, sowohl körperlich, als auch geistig, die gesamte Situation betreffend. Wanabe hingegen hatte konzentriert einen Punkt vor sich fixiert, als ob er ihr die Antwort auf all die Fragen geben könnte, die ihr auf der Seele lagen.
»Es ist so viel einfacher«, meinte sie schließlich schlicht. Die Antwort entsprach ihren Gefühlen. Sie war es müde, gegen das offensichtlich Unvermeidliche anzukämpfen, sich einzureden, es müsse sich alles irgendwann zum Besseren wenden. In den vergangenen sechzehn Stunden hatte sie mehr Menschen sterben sehen, als in ihrem gesamten Leben zuvor und ein Ende der Todesfälle war nicht abzusehen.
Den Kopf in den Sand zu stecken, wie David es ausgedrückt hatte, wäre so einfach, so sicher. Das Wissen, nichts könne danach noch kommen, so beruhigend. Alles hätte ein Ende, das beklemmende Gefühl in der Magengegend, wenn ein weiterer 'Kunde' eintreffen würde, von dem sicheren Wissen begleitet, dass sie ihm letztendlich nicht wirklich würde helfen können, bis hin zur bleiernen Müdigkeit, die sich langsam in ihrem Körper breitmachte, weil sie niemanden entbehren konnten, nicht einmal für eine Stunde. Wenn dies alles sowieso umsonst war, wozu dann überhaupt noch weitermachen?
Wie um ihren Gedanken zu antworten, sagte David: «Ja. ' Schlafen, vielleicht auch träumen '.« Er lächelte eine Weile vor sich hin, bevor er fortfuhr: »Das ist einfacher, keine Frage. Aber es bewirkt nichts. Genauso wenig, wie einen popeligen Job anzunehmen. Wenn wir es hätten einfach haben wollen, wären wir auf der Erde geblieben und hätten den Beruf unserer Eltern angenommen.«
Er grinste sie an in dem Wissen, dass ihre beiden Eltern Buchhalter waren und sich Wanabe einmal dahin gehend geäußert hatte, dass sie sich lieber dem Entwicklungsdienst verschrieben hätte, als diesen Beruf zu erlernen. Allerdings schien diese Bemerkung den gewünschten Effekt zu haben, denn anstelle der beunruhigenden Leere, die er zuvor in ihrem Blick entdeckt hatte, trat jetzt ein Funkeln, das auf die alten Lebensgeister hinwies, wenn es auch noch ein wenig verhalten war.
»Es geht also weiter, hm?«
»Ja«, entgegnete David. »Bis zum bitteren Ende.« Er blickte Wanabe an und bemerkte den immer noch zweifelnden Blick in ihren Augen, der allerdings die persönliche Note verloren hatte, die vor einer Minute noch so geschmerzt hatte. Er nahm ihre Hand und drückte sie mit seinen beiden, um hinzuzufügen: »Und dieses Mal … gilt es.«
Sie blickten sich gegenseitig in die Augen, saßen eine Weile nebeneinander auf dem staubigen Boden und waren einfach dankbar für die Nähe des anderen, für die Anwesenheit von Ruhe, von Zusammengehörigkeit, von Vertrauen und von tausend anderen Dingen, für die es keine Worte gab, nur vage Gefühle, die jedoch nichtsdestotrotz vorhanden und wichtig waren.
Der Kuss, den Wanabe ihm auf die Stirn drückte, kam so unerwartet, dass David ungewollt zurückschreckte. Gleichzeitig, ohne es zu wollen, brachten sie beide ein »Entschuldigung« hervor, bevor sie sich unbeholfen beim Aufstehen halfen und dann schweigend den Weg bis zur nächsten Weggabelung nebeneinander hergingen, um dann den jeweiligen Weg in verschiedene Richtungen fortzusetzen. Wanabe ihren zur Krankenstation und David seinen zu einem anderen Ort, den er noch nicht näher bestimmt hatte.
Während er gedankenverloren durch das Schiff wanderte und die Ruhe genoss, die in diesem Teil vorherrschte, dachte David über die vergangenen Minuten nach.
Er ertappte sich dabei, sich Dinge vorzustellen, an die er im Zusammenhang mit Wanabe früher nicht einmal ansatzweise gedacht hatte.
Er blieb stehen und fragte sich im Stillen, wie ernst diese Gedanken waren. Er und Sonja hatten eine Beziehung, wie er sie sich immer erträumt hatte, aber Wanabes Gegenwart, so selten diese in den vergangenen Stunden auch vorhanden gewesen war, weckte Gedanken in ihm, die zu der ersten Überlegung irgendwie absolut nicht passen wollten.
Mit einem energischen Kopfschütteln setzte er seinen Weg fort, um sich schließlich anhand der Geräusche zu orientieren, die auf eine größere Menschenansammlung schließen ließen. Als er um die letzte Ecke bog, traf er auf Nina, die, vor einer größeren Gruppe stehend, eifrig Anweisungen gab und dabei hin- und herlief.
»Na? Wie stehen unsere Aktien?«, erkundigte er sich, als er neben ihr angekommen war, einen Augenblick nutzend, in dem sie still stand.
»Ganz gut so weit« nickte sie ihm zu. Ihr Blick jedoch war weiterhin unstet und weigerte sich, länger als zwei Sekunden an einem Fleck zu verweilen. In den paar Wochen ihrer fast-Beziehung hatte David dieses Verhalten kennen und abgrundtief hassen gelernt. Es deutete an, dass etwas Elementares nicht stimmte.
»Aber?«, fragte er deshalb betont ruhig.
»Wir haben ein Problem.« Was ihn an der Antwort wirklich beunruhigte, war der Umstand, dass Nina ihm nach wie vor nicht in die Augen blickte, obwohl er ihr bereits dabei half, die unangenehme Nachricht auszusprechen.
Schließlich wandte sie sich von dem allgemeinen Geschehen ab und zog ihn, immer noch den Augenkontakt vermeidend, zurück in den Gang, aus dem er gekommen war.
»Was ist jetzt kaputt?«, erkundigte er sich, hoffend, dass sich das Problem auf ein schwerwiegendes technisches beschränkte.
»Gar nichts. In einer Stunde sind wir soweit, dass wir anfangen können«, bestätigte Nina seine Befürchtungen. »Das Problem ist eher, was danach kommt.«
David hatte, nachdem er Nina entdeckt hatte, vorgehabt, sich seinen Unmut bei ihr von der Seele zu reden, um wenigstens einen Teil des Druckes, der auf seinem Inneren lastete, loszuwerden, doch dieses Vorhaben wurde immer weiter in den Hintergrund gedrängt, je länger er die gequälte Mine beobachtete, die sich in Ninas Gesicht manifestierte. Er fasste sie bei der Hand und brachte sie mit nicht unerheblichen Druck dazu, sich hinzusetzen, nachdem sie aus dem Blickfeld der anderen verschwunden waren.
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