»Ich weiß nicht«, meinte sie gerade. »Das kommt darauf an, wie lange man dazu braucht, den Reaktor zu reparieren. Mit der Luft, die uns zur Verfügung steht, können wir nicht länger als ein paar Stunden auskommen, von den Verletzten ganz zu schweigen.«
Das Luftproblem war im Moment ihr größtes. Selbst die Strahlung, die von der Reaktorperipherie ausging, stand auf der Prioritätenliste weiter unten. Durch Schichtdienst und gezielte Verabreichung von Medikamenten sollte sichergestellt werden, dass sich niemand an Bord länger als unbedingt notwendig in dem verstrahlten Bereich aufhielt. Eine weitere Kontaminierung ließ sich so zwar nicht vollständig verhindern, jedoch wenigstens deutlich vermindern.
David hatte, nachdem die Konferenz aufgrund mangelnder Neuvorschläge abgebrochen worden war, Maureen aufgetragen, das Inventar nach Dingen zu durchsuchen, die sich für die von Marcel und Oliver aufgelisteten Aufgaben verwenden ließen. Es gab immerhin noch drei Lagerräume, die fast unbeschädigt waren. Die Chancen, etwas Brauchbares zu finden, lagen also nicht bei absolut Null.
Luft war hingegen weit schwerer zu beschaffen. Der Computer war nach wie vor nicht in der Lage, das gesamte Schiff mit Sauerstoff zu versorgen, wenn sie nicht auf die Schilde verzichten wollten. Im Hinblick auf den immer noch mehr als ungewissen Verbleib des gegnerischen Schiffes war allerdings keiner an Bord besonders begeistert von der Idee, die Schilde länger als unbedingt nötig abzuschalten. Und abgeschaltet werden mussten sie so oder so, zumindest für den Zeitraum, den sie für die Reparatur der Reaktorhülle benötigten. David saß auf einem der wenigen Stühle der medizinischen Station und wartete darauf, was Sonja als nächstes sagen würde.
»Ich kann es nicht sagen«, meinte sie schließlich unvermittelt. »Dazu fehlen mir die genauen Zahlen. Ich kann eine grobe Schätzung machen, aber nicht mehr. So, wie die Dinge jetzt stehen, kann ich nur raten.« Sie langte nach einer Notiz, die auf dem Tisch neben ihr lag, und gab sie David.
»Was ich allerdings weiß, ist, wie wir unser Wasserproblem lösen könnten«, meinte sie mit einem Nicken auf die Notiz. David las sich eine Reihe von Zahlen durch, wurde aber nicht schlau daraus. Auf seinen fragenden Blick hin erklärte sie:
»Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir zwar nicht genug Wasser an Bord, um darin zu baden, aber es sollte reichen.« Ein etwas wehleidiger Zug erschien auf ihrem Gesicht, bevor sie ihre letzte Bemerkung näher erläuterte. »Allerdings haben wir es nicht in der Form, wie wir uns das bisher vorgestellt haben. Noch nicht.« Ein leichtes Grinsen stahl sich über ihre Züge. »Hinten im Schiff befindet sich ein ziemlich großer Tank«, meinte sie schließlich. »Ich bin darauf gestoßen, als ich mir mal die Skizzen des Schiffes angeschaut habe. Ist eigentlich logisch, nur hat bisher keiner dran gedacht, bei der Hektik, die geherrscht hat. Da drin wird alles gesammelt, was unter die Rubrik 'Fäkalien' fällt.«
David erinnerte sich vage an eine Bestimmung, die es innerhalb einer bestimmten Entfernung zur Erde, Mars und Venus untersagte, alle an Bord anfallenden Fäkalien einfach in den Weltraum zu befördern, wie es lange Zeit mit nicht wieder an Ort und Stelle aufbereitbaren Abfällen dieser Art üblich gewesen war.
Nachdem sich Flüge außerhalb der Atmosphäre durchgesetzt hatten, hatte diese Vorgehensweise allerdings nachhaltige Wirkung auf Satelliten und ähnlich empfindliche Gerätschaften gehabt und war eine Zeit lang zwischen den Parteien Industrie, Regierung und privaten Interessengruppen ein beliebtes Thema gewesen.
Er schenkte Sonja wieder seine Aufmerksamkeit, die ihre Überlegungen bereits weiter ausführte:
»Wenn man mal berücksichtigt, dass wir mit über dreihundert Personen seit über vier Wochen im Raum sind, äh, waren, äh, naja, du weißt schon … « Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob Sonja die Fassung verlieren würde, nachdem sie ungewollt den Umstand ihrer momentanen Besatzungsstärke angesprochen hatte.
Das Thema war auf dem gesamten Schiff nach wie vor ein Tabu, soweit David wusste. Er hatte während des letzten Tages, während er mehr oder weniger ungewollt einige der Gespräche zwischen den Überlebenden mit angehört hatte, keine Unterhaltung gehört, die sich um dieses Thema gedreht hatte. Was nicht weiter verwunderlich war, wie er sich selbst irgendwann gesagt hatte.
Wenn man sich eingehend mit der Tatsache befasste, dass womöglich alle Menschen, die man gern gehabt oder außerhalb der Familie auch nur gekannt hatte, vor ein paar Stunden gestorben waren, würde dies unweigerlich in einer schweren Depression enden. Und für so etwas hatten sie im Moment schlicht und ergreifend keine Zeit.
Er blickte Sonja an, die, ihren Blick noch immer ins Nirgendwo gerichtet, vor ihm saß, und fuhr ihr mit den Fingerspitzen leicht über eine ihrer Augenbrauen. Der Blick fokussierte und begegnete seinem eigenen und anstelle der Leere trat für einen winzigen Augenblick ein Ausdruck, der David in der Seele wehtat. Er wollte etwas sagen, jedoch fehlten ihm die Worte angesichts der Situation.
Einen Augenblick später hatte Sonja ihr Inneres wieder abgeschottet und fuhr in ihrer Erklärung fort. Auch für so etwas war im Moment keine Zeit.
»Naja, wenn man das durchdenkt«, sagte sie in einem Tonfall, der nicht vermuten ließ, sie hätte eine Pause gemacht, »dürfte in dem Tank einiges drin sein.« Das jetzt wieder vorhandene Grinsen verstärkte sich zusehends, auch wenn sich langsam aber sicher wieder eine gequälte Note hinein geschlichen hatte.
»Wir haben also einen Haufen Scheiße an Bord, willst du mir sagen, ja?« David konnte nicht umhin, ebenfalls zu grinsen, wenn er auch nicht genau wusste, warum seine Freundin dies tat. Allerdings war ihm irgendwie nicht besonders wohl bei der Sache.
Das Vorhandensein dieses Tanks war im Prinzip allen bewusst, da ohne das Wiederaufbereiten der ausgeschiedenen Stoffe kaum eine Flüssigkeitsversorgung so vieler Menschen über einen Zeitraum von sechs Wochen möglich wäre. Frischwasser wurde nur für die ersten zwei Wochen mitgeführt, danach wurde die Versorgung von der Wiederaufbereitungsanlage gesichert.
Diese Anlage gehörte allerdings, wie so vieles andere auch, zu den Dingen an Bord, die fast unwiderruflich zerstört worden waren. Sie zu reparieren hatte wenig Zweck. Zu viele Bestandteile waren zerstört und noch viel mehr waren beschädigt, als dass eine Reparatur viel Sinn gehabt hätte.
Die Wiederaufbereitung in die eigenen Hände zu nehmen, war allerdings etwas, woran bisher noch keiner gedacht hatte. Ihm fiel eine von ihm selbst stammende Bemerkung über den 'Hang zum Pragmatismus' ein, und er musste unwillkürlich grinsen. Wie um seine Vermutung zu bestätigen, erwiderte Sonja:
»Um die Scheiße geht's nicht. Es geht, um mal in dem Jargon zu bleiben, um die Pisse.«
»Ist das so einfach?« Bei näherer Betrachtung erschien ihm diese Unternehmung nicht mehr so simpel wie vor ein paar Sekunden.
»Im Prinzip schon«, meinte Sonja vage. »Urin besteht aus zwei Dingen: Aus Schadstoffen, deshalb scheidet man das Zeug ja schließlich aus, und aus Wasser. Wenn man das Ganze abkocht, und das Wasser dabei abtrennt, kann man es ohne Probleme wieder trinken. Man sollte«, fügte sie auf Davids entsetzten Gesichtsausdruck hin hinzu, »damit rechnen, dass es nicht so gut klappen wird, wie es der Computer hinbekommen hat, aber im Prinzip ist das überhaupt kein Problem.« Davids hervortretende Augen ignorierend, meinte sie weiter:
»Wenn man mal annimmt, dass jeder Mensch ungefähr einen dreiviertel Liter am Tag ausscheidet, dann müssten wir, wenn man die Reserve, die an Bord war, mit einrechnet, ungefähr neuntausend Liter an Bord haben. Damit sollten wir eigentlich erst mal 'ne Weile hinkommen, denke ich. Wir müssen im Prinzip nur noch Leute finden, die diese … Aufgabe übernehmen. Bleibt also eigentlich nur noch das Problem mit der Luft.«
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