An diesem Punkt der Unterhaltung hatte David es vorgezogen, seiner Gesprächspartnerin einen Kuss aufzudrücken und sich aus dem Staub zu machen, bevor er Zeuge von noch weiteren brillanten Ideen werden würde, die ihn wünschen lassen würden, eine völlig autarke Lebensform zu sein. Über gewisse Dinge wollte er einfach nicht zu angestrengt nachdenken.
Auf dem Weg zur Brücke dachte er darüber nach, was jetzt alles zu tun und zu organisieren war. Dort angekommen, war er jedoch immer noch nicht viel weiter als zu Anfang, zu viele Dinge schwirrten ihm im Kopf herum, zu viele ungeklärte Fragen.
Die wohl wichtigste war: Warum war das Schiff so schnell verschwunden und hatte in der vergangenen Stunde nichts mehr von sich sehen oder hören lassen? Vielleicht, so David zu sich selbst, waren sie schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass ein weiterer Aufenthalt in dieser Gegend nur reine Zeitverschwendung darstellte, angesichts der offensichtlichen Probleme, die sie zu meistern hatten, abgesehen von den offensichtlichen Selbstmordabsichten.
Hinzu kam – mal wieder – eine Reihe von ungewissen Faktoren, die ein schnelles Handeln ihrerseits unmöglich machte, sofern sie sich nicht selbst und mit voller Absicht die Schlinge um den Hals legen wollten; ein Zustand, an den David sich jedoch zusehends gewöhnte, wie er überrascht feststellte.
Maureens Gesicht, das von der Konsole schwach erleuchtet wurde, brachte ihn in seinen Überlegungen jedoch einen Schritt weiter. Er erinnerte sich, dass sie, als er die Brücke verlassen hatte, einen recht desorientierten Eindruck gemacht hatte, seit Längerem zum ersten Mal.
Jetzt, wo sich wieder die alte Hektik breit gemacht hatte, im Gegensatz zu der ruhigen und grimmigen Ruhe von vor einer Stunde, schien sie jedoch wieder ganz in ihre Arbeit versunken, als ob die zugleich neue und alte Situation Lebensgeister in ihr wachgerufen hätte, mit denen wieder umgehen zu müssen keiner mehr gerechnet hatte.
Vielleicht sind sie doch dankbar, auf eine gewisse Art und Weise , dachte David bei sich, wobei er sich unbewusst seinen Hals rieb, obwohl längst kein Schmerz mehr von der Stelle ausging.
»Na? Fündig geworden?«, fragte er sie. Auf dem Display waren mehrere Listen angezeigt, die – so mutmaßte David – die Lagerbestände anzeigten, über die sie verfügten.
»So was in der Richtung«, murmelte Maureen schließlich vor sich hin, ohne wirklich von dem Schirm aufzublicken. Ein Blick auf ihr Gesicht zeigte David allerdings, dass dieses Verhalten mehr auf Müdigkeit beruhte, als auf denn auf Schüchternheit.
»Wir haben eigentlich alles, nur nicht in genügenden Mengen.« Sie zeigte auf eine der Anzeigen auf dem Schirm, die die vorhandene Bleimenge an Bord anzeigte. Alle waren zu dem Schluss gelangt, dass Blei, wenn denn vorhanden, das geeignetste Mittel sei, um die Risse der Reaktorhülle zu kitten, da es einen niedrigen Schmelzpunkt hatte und diese Arbeit somit auch mit einem schwachen Schweißbrenner zu erledigen war. Die Mengeneinheit, die er vor sich auf dem Display sah, war allerdings sogar für Davids ungeübtes Auge deprimierend klein.
»Was wollt ihr eigentlich machen?«, erkundigte sich Maureen schließlich. »Einen neuen Reaktor bauen?«
»Nicht ganz«, grinste David sie an. »Nur die Hülle reparieren.« Er besah sich die Anzeigen auf dem Monitor, ohne auf einen weiteren Hinweis zu stoßen, der ihnen weiterhelfen könnte.
»Im Prinzip ist alles, was man dazu braucht«, schloss Maureen ihre Beobachtungen ab, indem sie sich vom Monitor abwendete, »in den unteren Decks vorhanden. Da befinden sich die Physik- und Chemieabteilungen. Jedenfalls war mal alles da. Ich weiß nicht, wie weit die mit ihren Versuchen gekommen sind. Das Problem ist nur, dass da seit Stunden keine Luft mehr drin ist.«
Eine Weile saß David bewegungslos in seinem Stuhl. Sie saßen in einer Zwickmühle. Wenn sie für ausreichend Luft in den angesprochenen Bereichen sorgen wollten, mussten sie die Schirme abschalten. Das allerdings würde sie nicht nur der Gefahr eines neuerlichen Angriffes aussetzen, sondern darüber hinaus noch die Gefahr bergen, von Raumschutt oder gar Gesteinsbrocken getroffen zu werden, während sie schutz- und mehr oder weniger bewegungslos im Raum trieben.
Ohne die Luft würden sie jedoch weder ausreichend Zeit haben, alle erforderlichen Gerätschaften aus den unteren Decks zu holen, noch würde ihr Sauerstoffvorrat lange genug halten, alle an Bord befindlichen Personen zu versorgen, sobald der Reaktor einmal abgeschaltet worden war.
Er drehte sich zu Maureen um und blickte sie lange Zeit an, bevor er etwas sagte.
»Ich bin der Captain, oder?«
»Äh, naja, sowas in der Richtung. Ja.« Die Frage kam überraschend, insbesondere weil David sie stellte. Bisher hatte er sich am allerwenigsten um seinen 'Rang' gekümmert, sondern ihn mehr als einmal verflucht und zu vergessen versucht.
Jetzt schritt David mit einem grimmigen Gesichtsausdruck und einem nicht zu übersehenden Funkeln in den Augen zu der Kommunikationseinheit an der Wand und sprach ins Mikrofon:
»Achtung, kleine Durchsage: Alle, die vorhin an der technischen Einsatzbesprechung teilgenommen haben, sollen sich möglichst umgehend auf der Brücke melden. Auf dem Weg hierher könnt ihr euch schon mal überlegen, was ihr genau für den Schweißbrenner, die Batterie und sonst noch alles braucht. Wir werden in Kürze eine kleine Bergungsexpedition in die unteren Decks starten. Ende und aus.«
Nach einer Weile meinte er zu Maureen: »Das trifft sich ganz gut, wir müssen sowieso in die Chemie. Wir brauchen ein paar Destillierapparate.«
»Wofür denn das?« Ein vages Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wollt ihr jetzt Schnaps brennen?«
»Gute Idee.« Er blickte Maureen überrascht an. Darauf war er noch gar nicht gekommen. »Aber nein. Wir brauchen das Zeug für was anderes.« Maureen blickte ihn neugierig an. »Glaub mir, du willst es nicht wissen.«
Von der Brücke erklingende Schritte ließen ihn aufhorchen. Es lag eine arbeitsreiche Zeit vor ihnen.
»Ich hoffe, das war jetzt alles?!« Nina ließ den Packen, den sie in den Händen hielt, so vorsichtig wie möglich auf den Boden fallen. Die Arme schmerzten ihr und ihre Lungen fühlten sich an, als ob sie gerade ohne Sauerstoffmaske Bergsteigen gewesen wäre.
Bevor sie eine Viertelstunde lang alles an Materialien zusammengetragen hatten, was sie brauchen würden, um dieses, nach Ninas Meinung mehr als hirnrissige Projekt zu starten, hatte David Simon dazu überredet, die Schirme abzuschalten, um somit die Luftversorgung auf dem Schiff wieder in Betrieb nehmen zu können. Normalerweise dauerte es fast eine Stunde, bis die Luftqualität wieder einen normalen Wert annahm, jedoch wollte keiner von ihnen so lange warten.
Nach fünfzehn Minuten hatte sich der Trupp von insgesamt acht Personen auf den Weg zu den drei Decks tiefer gelegenen Räumen gemacht, um die schlechteste Luft einzuatmen, an die sie sich erinnern konnten. Doch der Ausflug hatte sich gelohnt.
Neben den vier Batterien, die sie aus dem immer noch intakten Mondfahrzeug ausgebaut hatten und den Bunsenbrennern, die sie als provisorische Schweißbrenner verwenden würden, waren sie auf mehrere Sauerstoffflaschen gestoßen, die alle Mitwirkenden zu einem kleinen Freudentanz veranlasst hatten.
Angesichts der bevorstehenden Luftknappheit würden sie jedes Quäntchen Sauerstoff brauchen, das sie in die Finger bekommen konnten. Darüber hinaus würde ein gewisser Teil den Verletzten zugutekommen, die unter dieser Situation am meisten leiden würden.
Als sie eigentlich schon fertig waren, war David mit zwei Freiwilligen noch einmal in Richtung Chemielabor verschwunden, um so ziemlich alles mitgehen zu lassen, woraus man einen beziehungsweise mehrere Destillierapparate bauen konnte. Allein dieser Teil der Ausrüstung beanspruchte einen eigenen Raum.
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