„Unterstellst du mir etwa, dass ich mich hinter meiner Tochter verstecke?“ Muriel kam mit einer Holzplatte herein. Darauf waren Lachs, etwas Brot und Maisbrei geschichtet. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“, schürte der Vater den Streit weiter.
Flugs stellte Muriel das Brett neben den Topf und hastete hinaus.
„Lassen wir es gut sein, Vater.“ William klang auf einmal resigniert. „Wir werden nie einer Meinung sein. Aber schlag dir um Gottes willen den Plan mit Jodie aus dem Kopf.“
„Das muss er nicht, William“, mischte sich Jodie ein und war auf einmal ganz ruhig. „Ich werde nach Glamis reisen und tun, was er verlangt.“ Beide starrten sie an. „Ich mache es aber für Schottland, nicht für Vater.“ Er wurde aschfahl im Gesicht und sie wusste, dass ihn ihre Worte tief getroffen hatten.
„Du hast keine Ahnung worauf du dich einlässt“, prophezeite William ihr. „Bruce und ich hatten in Salisbury mal das zweifelhafte Vergnügen. Unsere Bekanntschaft endete in einer Prügelei. Danach schwor er mir Rache und darin ist er genauso unerbittlich wie ich. Sollte er deine wahre Identität aufdecken, dann lauf! Lauf so schnell du kannst. Denn dieser Mann ist ein Wolf im Schafspelz.“
Die Reise zum Glamis Castle war anstrengend. Vor allem, weil ihnen das Wetter zu schaffen machte. Dichter Schneefall hatte das Passieren vieler Wege unmöglich gemacht und sie zu tagelangen Aufenthalten mitten in der Wildnis gezwungen. Dabei hatten sie gegen frostklirrende Kälte angekämpft und Mühe gehabt, Brennholz zu finden. Der Knappe Gunnar hatte sein Bestes getan, doch die Erschöpfung war ihm allmählich anzusehen.
Als der Winter die eisigen Klauen gelockert hatte, beherrschten sintflutartige Regenfälle die Tage und Nächte. Einhergehend mit starkem Wind, der sich nicht selten zu einem Sturm auswuchs. Manchmal hatte sich Jodie gefragt, ob sich Himmel und Erde gegen sie verschworen hatten, weil sie wortlos vom Vater gegangen war. Ohne ihn anzusehen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Nur von ihrer Mutter, William und John hatte sie sich verabschiedet.
Anfangs hatte sie keinen Gedanken an den Vater verschwendet. Zu überwältigt von den Eindrücken, die sie bekam. Ob von der Landschaft oder den Dörfern, durch die sie reisten. Und da war dieses erhebende Gefühl von Freiheit gewesen. Es war neu und aufregend. Bis das Wetter verrücktspielte. Ab da ging es nur noch ums Überleben und alles andere trat in den Hintergrund.
Seit einiger Zeit war die Landschaft karger geworden und von der Euphorie nichts mehr übrig. Sogar mit Gunnars Schweigsamkeit konnte Jodie immer schlechter umgehen. Weil sie zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Vor allem über den Vater. Jetzt bereute sie es, dass sie ohne ein Wort gegangen war, denn trotz allem: Er war ihr Vater. In vielen Nächten hatte sie wachgelegen. Geplagt von ihren Gewissensbissen, der Sorge um die Mutter und um ihre Brüder. Dementsprechend ausgelaugt fühlte auch sie sich mittlerweile.
„Ist Euch kalt?“, brummte Gunnar.
„Es geht schon.“ Bis auf die Haut durchnässt kauerte Jodie in eine Decke gewickelt nahe dem Feuer. Sie wollte nicht jammern, obwohl sie entsetzlich fror. Wenigstens war sie satt. Es war Ende Februar und die ersten Kreuzottern verließen ihr Winterquartier. Eine hatte Gunnar untertags gefangen und am Spieß gebraten. Ihre Vorräte waren längst aufgebraucht. Am Tag und die halbe Nacht reisten sie, um die verlorene Zeit aufzuholen. Den Rest verbrachten sie auf ausgekühlter Erde.
Jodie zog die Decke enger. Nicht nur wegen der Kälte. Die Geräusche aus den Wäldern waren unheimlich, ob es der Ruf eines Wolfes oder der einer Eule war.
„Habt Ihr noch Hunger?“, erkundigte sich Gunnar in seinen schlohweißen Bart hinein und fuhr sich über die Glatze. Sein löchriger Hut lag neben ihm.
„Nein.“ Sie hatte gelernt, in kurzen Sätzen zu sprechen.
Über ihr spannte sich eine graue Decke, die Gunnar am Karren festgemacht hatte. Das andere Ende hing über zwei lange Stöcke. Weit genug weg, um kein Feuer zu fangen, obwohl das Gewebe an manchen Stellen angesengt war. Der Wind zerrte am groben Leinenstoff. Es begann zu nieseln. Manchmal zischte es, wenn Tropfen auf die glühenden Steine fielen, die das Lagerfeuer umkreisten.
Der Schimmel wieherte. Gunnar hatte ihn bei der nahen Fichte festgezurrt.
„Hab’ schwarze Schlangen gesehen.“ Ein Tropfen platschte auf Gunnars fleischige Nase. „Rotschenkel hab’ ich erspäht, außerdem wächst Süßgras in Überzahl. Die Bäume sind niedrig, schlecht im Wuchs. Fichten und Kiefern.“
Jodie blickte sich um, doch der Schein des Feuers reichte nicht weit. „Was meinst du damit?“
„Manchmal bildet es sich in Senken. Ist ja ein Fluss in der Nähe.“
Ein Geräusch schreckte Jodie auf. Wie das Blubbern von Luft aus einem leeren Becher, den man unter Wasser hielt. „Was ist das?“ Sie rückte ein Stück zur Seite und spähte über das Gras.
„Frosch, ich sag’s ja.“ Gunnar stocherte mit einem Zweig im Feuer herum. „Da.“ Mit dem Kopf deutete er zu ihrer linken Seite. Jodie erblickte das Tier und hüllte sich tiefer in die Decke. „Der hat mehr Angst als Ihr.“ Der Frosch hüpfte weg. Gunnar legte den Zweig neben das Feuer, klopfte sich auf die ledernen Beinlinge und legte sich der Länge nach hin. Bis zur Stirn zog er die Decke hoch und schnarchte kurz darauf.
„Gute Nacht, Gunnar“, flüsterte Jodie und legte sich ebenfalls hin. Der Wind spielte mit ihren Haaren und den Flammen. Sie nagte an ihrer Unterlippe und dachte an Glamis. Daran, was sie erwarten würde, vor allem wer. Gunnar hatte davon gesprochen, dass Bruce ein Weiberheld sei. Hoffentlich füllte ihn das so aus, dass er sie nicht weiter beachtete. So schnell wie möglich wollte sie ihren Auftrag hinter sich bringen und … langsam wurden Jodies Lider schwer. Ausgiebig gähnte sie und drehte sich zur Seite.
„Aufwachen!“
Jemand rüttelte unsanft an ihrer Schulter. Jodie wollte den Kopf heben, aber ein stechender Schmerz im Nacken hinderte sie daran. Verschlafen öffnete sie die Augen. Gunnar beugte sich im schwachen Licht des Feuers über sie. Die Überdachung war fort, und ihre Decke. Schneidender Wind fegte über sie hinweg und riss an ihren Kleidern. Der Schimmel wieherte panisch. Dann setzte schwallartiger Regenguss ein. Die Tropfen schmerzten auf ihrer Haut. Das Feuer verlöschte binnen Sekunden.
„Auf der Stelle fort von hier, ehe die Erde aufweicht!“ Gunnar lief zum Pferd. „In der Nähe muss auch ein Moor sein. Wir sollten zusehen, dass wir aus dem Sumpfgebiet herauskommen, sonst sind wir verloren“, brüllte er über die Schulter hinweg. Jodie versuchte die Nackenschmerzen zu ignorieren und rappelte sich hoch.
„Aber man kann kaum etwas sehen“, erwiderte sie in derselben Lautstärke, um sich gegen das Heulen des Windes zu behaupten. Hart klopfte ihr Herz gegen die Brust. Die Kleider klebten an ihrem Körper, ebenso wie die Haare in ihrem Gesicht. Gunnar zog das Pferd hinter sich her und spannte es vor den Karren. Im seichten Mondlicht war seine Gestalt nur schemenhaft zu sehen.
„Klettert auf den Karren, schnell.“
Umgehend befolgte sie Gunnars Anweisung und tastete sich hinauf. Kurz darauf mühte sich der Schimmel durch die morastige Erde. Die Räder ächzten. Jodie saß hinter dem Knappen und hätte sich am liebsten an ihn gepresst.
Plötzlich geriet der Karren in Schieflage.
„Festhalten!“, befahl Gunnar, als Jodies Kiste plötzlich rumpelnd hinunterrutschte.
„Meine Truhe.“ Sie kroch an den Rand des Karrens. Es stank faulig. Nach Aas und Verwesung, feuchten Holzrinden und Dung. Die säuerliche Schärfe erschwerte ihr das Atmen. Auf einmal kippten sie zur Seite. Gellend schrie sie auf. Das Pferd wieherte.
„Springt hinunter“, brüllte Gunnar. „So springt doch!“
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