Plötzlich war ein verschleimtes Räuspern zu hören. Menteith begann zu husten. Comyns Lachen ebbte ab. Hastig holte Menteith ein Mundtuch aus der Jackentasche und spuckte hinein.
„Stell den Krug hin, wir bedienen uns selbst.“ Ihr Vater trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch. „Wir haben einiges zu besprechen. Allein.“
Rasch platzierte Jodie den Krug in die Mitte, huschte hinaus und schnappte sich die Laterne vom Rosenholztischchen im Foyer. Sie hatte keine Lust, wieder in die Küche zu gehen und eilte über die Treppe hinauf.
In ihrem Zimmer stellte sie die Laterne auf den Fenstersims, holte ihr braunes Schatzkästchen unter dem Bett hervor und sank auf die Tagesdecke. Nachdem sie den mit Schnitzereien verzierten Deckel beiseitegelegt hatte, stellte sie die Schatulle auf ihren Schoß. Wenige bescheidene Dinge bewahrte Jodie darin auf, aber für sie waren sie unbezahlbar. Sogar der kaputte Knopf, den sie von John bekommen hatte. Daneben lag der schlichte Goldreif mit einem jadegrünen Glasstein. Die Mutter hatte ihr das Schmuckstück geschenkt, als sie zehn Jahre alt gewesen war. Der Stein hat beinahe die Farbe deiner Augen, hatte sie damals gesagt.
Zärtlich berührte Jodie den Zopf, geflochten aus dem Haar der Mutter und ihrem eigenen … und da war Molly. Das Holz war aufgeraut, das gemalte Gesicht kaum mehr zu sehen, weil unzählige Tränen darauf getropft waren. Aufgewühlt küsste sie Molly, drückte sie dann an ihre Brust und lächelte unter Tränen, weil sie Malcolm lachend vor sich sah. Komm schon, Lowland, sei kein Mädchen!
Aufseufzend griff sie mit der anderen Hand zu Williams Stein. Er hatte ihn angeblich vom ´Old Man of Stoerˋ herausgebrochen. Mit leuchtenden Augen hatte er davon erzählt. Davon, und von so vielem mehr. Dass er im warmen Sand gesessen und auf die See hinausgeblickt habe. Eissturmvögel und Skuas, die Low- und Highlands oder zerklüftete indigoblaue Felsen, die sich in den Lochs widergespiegelt hatten. Mit einem endlosen purpurfarbenen Himmel über sich. Fjorde und Seen, satte grüne Täler und Steppen mit Weidenröschen - durch Williams Erzählungen erwachte Schottland für sie zum Leben. Es gibt kein schöneres Land als unseres. Sogar der schottische Wind ist anders , hatte er oft behauptet, kraftstrotzend und erfüllt vom Duft der Freiheit, als würde ihn der Atem jedes einzelnen Schotten entfachen, der über die verdammten Engländer seufzt. Darüber hatte sie oft gelacht, aber insgeheim beneidete sie William um die vielen Bilder in seinem Herzen und um seinen Glauben an dieses Land, das sie nur vom Hörensagen kannte.
Jodie schaute wieder auf den Sandstein. Ganz fest umschloss sie ihn und Molly.
„Das lasse ich nicht zu!“, hörte Jodie plötzlich ihre Mutter bis in ihr Zimmer herauf. „Was bist du bloß für ein Vater?“ Schnell legte sie Stein und Holzfigur in die Schatulle, die sie an ihren Platz zurückschob. Dann eilte sie zur Tür und schlich sich auf Zehenspitzen in den Gang hinaus. „Du wirst sie nicht unter einem fadenscheinigen Vorwand in ihr Verderben schicken, Alan. Niemals!“
„Beruhigt Euch.“ Das war Menteith.
„Ich werde mich erst beruhigen, wenn Alan diesen haarsträubenden Plan verwirft.“
Nur noch wenige Schritte bis zur Treppe!
„William hat mir vorgehalten, dass mir nichts an Schottland liegt.“ Wie zornig der Vater klang. „Jetzt kann ich beweisen, dass dem nicht so ist.“
„Auf Kosten unserer Tochter? Hör doch auf, dir und mir etwas vorzumachen. Wir wissen beide, worum es in Wirklichkeit geht!“
Hinter der Rüstung am Treppenabsatz versteckte sich Jodie und lugte hinunter.
„Wovor habt Ihr solche Angst?“, mischte sich Comyn ein.
„Mutterliebe“, erklärte der Vater halbherzig.
„Tatsächlich? Da steckt doch mehr dahinter, Alan.“ Nun klang Menteith besorgt.
„Du fällst mir aber jetzt nicht in den Rücken, oder?“
„Schau dir Margarete an. Sie hat eine Heidenangst“, fuhr Menteith unbeirrt fort.
„Könntet ihr uns einen Augenblick alleinlassen?“, bat der Vater. Menteith und Comyn nickten, bevor sie davongingen. Laut hallten ihre Schritte durch die Eingangshalle, dann hörte man das Schließen einer Tür. „Gütiger Himmel, wir haben Gäste“, erboste sich der Vater mit zischender Stimme. „Willst du mich lächerlich machen?“
„Habe ich das nicht längst getan?“
„Ich bin nicht in der Verfassung für eine Diskussion.“
„Keine Angst, du bist der Letzte, mit dem ich mich im Augenblick auseinandersetzen möchte. Aber nur damit du es weißt: Ich wollte Jodie heute alles erzählen. Leider bist du dazwischengekommen.“
„Worüber du froh sein solltest. Sie liebt dich. Willst du das aufs Spiel setzen?“
„Mein Gott, Alan, wie lange willst du noch die Augen verschließen? Bis du uns einen nach den anderen verloren hast?“ Der Vater blieb stumm. „Wir hatten unendlich viel“, sagte sie so leise, dass Jodie sie kaum verstehen konnte, „doch jetzt haben wir weniger als gar nichts. Und das bloß, weil du zu feige bist für die Wahrheit. Zu feige, um sie laut auszusprechen statt sich ihr zu stellen. Nicht er hat unser Leben zerstört, du selbst hast es getan und zugelassen, dass er sein Ziel erreicht hat. Davon abgesehen vertraue ich darauf, dass mich meine Tochter nicht weniger lieben wird, sobald sie alles erfahren hat.“ Die Mutter machte auf dem Absatz kehrt. Jodie trat hinter ihrem Versteck hervor und schaute ihr mitleidig hinterher. Bis sie den Blick des Vaters auffing.
„Wie es aussieht, hatte Mutter einen guten Grund zu schweigen“, ergriff Jodie Partei für sie und es kostete sie Mühe, ruhig zu bleiben. „Willst du mir immer noch weismachen, dass da nichts ist?“
„Es gibt Wichtigeres. Komm in die Stube. Menteith, Comyn und ich haben etwas mit dir zu besprechen.“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch und doch hörte sie Unsicherheit heraus.
Kurz danach saß Jodie wie eine Angeklagte vor den Männern. Sechs Augenpaare fixierten sie wie ein Mysterium. Unbehagliches Schweigen lag in der Luft.
„Jodie“, begann Menteith mit gewichtiger Miene zu sprechen, „Schottland braucht dich.“
„Mich?“ Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Was sollte ausgerechnet sie für ihr Heimatland tun können? Außerdem war sie nach wie vor aufgewühlt von den Ereignissen und hatte eine Mordswut im Bauch.
„Ja, Euch.“ Comyn wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Vater. „Ihr habt bestimmt von meinem Cousin Robert the Bruce - dem Earl of Carrick - gehört.“
„Ein Gegner Balliols, aber treuer Freund Schottlands.“ Das wusste sie von Muriel.
„Nun, du bist nicht ganz auf dem Laufenden.“ Menteiths Hände rasteten gemütlich auf seinem Bauch, in dem es rumorte. „Wir wissen seit längerem, dass Bruce mit König Edward sympathisiert. Während Comyn unseren König unterstützt, möchte Bruce ihm lieber heute als morgen die Krone abjagen. Um das zu erreichen macht er gemeinsame Sache mit Longshanks.“
„Was hat der englische König mit unserer Krone zu tun?“
Menteiths mildtätiges Lächeln wirkte, als würde er annehmen, dass sie außerstande wäre eins und eins zusammenzuzählen. Aber Jodie verkniff sich jegliche Äußerung. „König Edward hat es auf unser Land abgesehen“, erklärte er mit ernst gewordener Miene. „Der Idiot glaubt tatsächlich, das würde niemand durchschauen. Noch herrscht Waffenstillstand zwischen ihm und Balliol, doch es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Krieg ausbricht. Unser König ist nicht länger willens, vor England zu kuschen. Edward hat nämlich vor, Schottland unter die englische Krone zu stellen.“
„Warum erzählt Ihr mir das, Sir Menteith?“
„Weil du mit uns gemeinsam für die gute Sache kämpfen kannst, Jodie“, antwortete der Vater an dessen Stelle. „Zu diesem Zweck wirst du in einigen Tagen abreisen.“
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