Cohen schüttelte den Kopf. »Sigha ist ja da.«
»Ja, aber …«, Arrav trat noch etwas näher an Cohen heran, um es deutlicher zu machen, »deine Frau wird nie verstehen, was uns durch die Erlebnisse des Krieges verbindet. Ich meine … steht es nicht geschrieben in den Schriften der Götter? Finde Trost bei jenen, die ähnliches durchmachten.«
Ausatmend ließ Cohen Arrav los und nahm einen Schritt Abstand. Er rieb sich über das Gesicht, als quälten ihn innerlich tausend Sorgen.
Arrav konnte nicht sagen, warum er sich von Cohen so angezogen fühlte. Bei anderen Männern hatte er selten solche Gefühle bekommen. Aus Furcht vor Konsequenzen hatte Arrav natürlich nie einen anderen Mann angefasst – er wollte nicht gehängt werden. Aber bei Cohen setzten alle vernünftigen Gegenargumente aus und Arrav war nicht im Stande, eine kluge Entscheidung für sie beide zu treffen. Zu groß war die Neugierde auf das, was die Kirche so strikt verbot. Was es noch einmal aufregender machte.
»Gute Nacht, Arrav«, sagte Cohen und wollte sich abwenden.
»Sevkin hat nichts falsch gemacht«, hielt Arrav ihn noch einmal zurück. »Und ich glaube, du siehst es genauso.«
Cohen dachte einen Augenblick darüber nach, Tränen der Scham standen ihm in den Augen, und da begriff Arrav langsam, dass Cohen sich bis ins Mark fürchtete.
Arrav nutzte diese Furcht, um zu versuchen, Cohen zu manipulieren: »Weißt du, Cohen, ein einziger Mann könnte all das beenden. Ein Mann könnte die Rechte der Frauen und Bastarde vertreten. Es bedarf nur einen Mann dafür, der mutig genug wäre, etwas zu verändern. Du könntest dieser Mann sein – und wir alle stünden hinter dir.«
Cohens Miene wurde steinhart, als er begriff, worauf Arrav hinauswollte. Er trat zurück und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich werde nicht darum bitten, die Nachfolge antreten zu dürfen. Niemals!«
Entmutigt ließ Arrav die Schultern hängen. Er hatte sich eine andere Antwort erhofft.
»Sag das ja nie wieder!«, beschwor Cohen ihn einfühlsamer. Noch einmal musterte der Kommandant Arrav von oben bis unten mit unverhohlener Neugierde, dann wandte er sich ab und ging alleine weiter.
Arrav sah ihm eine Weile nach und spürte tiefe Trauer darüber, dass seine forsche Art zu nichts geführt hatte. Aber am ehesten bedauerte er, dass Cohen nicht bereit war, das ultimative Opfer für ihre Heimat zu bringen.
Schlimmer war noch, dass Arrav sich gerade offenbart hatte und auf Granit gestoßen war.
Ob Cohen dichthielt?
Er konnte nur hoffen.
Hätte Arrav keinen Eid geleistet, der ihn an Cohen band, wäre er in dieser Nacht gewiss zu den Rebellen geritten, um sich ihnen anzuschließen. So wie es viele bereits getan hatten.
Aber nun ging er zu den Soldatenunterkünften, um sich auszuschlafen, damit er am morgigen Tage die Hinrichtung des letzten, freien Luzianers mit ansehen konnte. Was er gewiss nicht mit Freude tun würde, war er doch selbst zum geringen Teil ein Luzianer.
»Abgelehnt.« Noch einmal las er das Wort laut vor: »Abgelehnt …«
Bedauernd schüttelte er den Kopf und erhob sich aus seinem Stuhl. Er schloss die Faust um das winzige Pergament, das vor wenigen Augenblicken mit einem Botenvogel gekommen war. Die Nachricht hatte die Weiten des Tobenden Meeres mittels einer verzauberten Taube überquert, um hier in Carapuhr alle Hoffnung zu zerschlagen.
Melvin durchquerte die Flure der königlichen Burg, seine Schritte hallten laut durch die Korridore mit ihren hohen Decken. Obwohl ihn sein Weg unverzüglich nach Erhalt der Nachricht zu seinem Bruder führen sollte, steuerte Melvin den Bibliotheksflügel an, wo er seine Frau vorfand.
Wie erwartet saß Karrah zu dieser frühen Stunde auf einer mit weichen Fellen bedeckten Fensterbank und spähte hinaus über die hellgrünen Wiesen des Burggartens, der sich nur langsam vom harten Winter erholte. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster, Karrah hielt ihr wunderschönes Gesicht und ihre violetten Augen in den Windzug, der durch den Spalt des halb geöffneten Fensters in den warmen Raum drang.
Melvin blieb im Türrahmen stehen und betrachtete für einen Moment das Bild, das sich ihm bot. Karrah wirkte blass und übermüdet, was ihrer exotischen Schönheit jedoch nicht abträglich war. Sie hatte ihr rotes Seidenkleid geöffnet und eine Brust befreit, in ihren Armen lag sein neugeborener Sohn und trank sich satt an ihrer Milch. In Mitten der hohen Regale, die über und über mit Büchern vollgestopft waren, wirkte seine kleine Familie geradezu verloren.
Melvin nahm sich ein Herz und trat ein. »Abgelehnt.«
Sie sprang so unerwartet auf, dass er einen winzigen Augenblick Sorge um seinen Sohn hatte, aber Karrah hielt ihn sich an die Brust gedrückt.
Grauenhaftes Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, Melvin ertrug es nicht, sie so zu sehen und senkte den Blick.
Er hätte sie gerne in den Arm genommen, doch er wusste, dass sie dies im Augenblick nicht zugelassen hätte. Er kannte sie mittlerweile gut genug, und wegen ihrer Stärke und ihrer Sturheit hatte er sich in sie verliebt und sie geheiratet. Karrah war die einzige, die sich nicht an seinem verbrannten Körper störte, oder daran, wie unansehnlich die eine Hälfte seines Gesichts war, und er hatte nie ein Problem mit ihrer Unabhängigkeit oder ihrer Zauberkraft gehabt. Liebe musste bedingungslos sein und durfte nicht nur darauf beruhen, dass man den anderen schön fand. Er glaubte, dass sie sich deshalb so nahestanden, weil er wusste, dass sie ihn um seiner Person willen liebte, nicht wegen Äußerlichkeiten.
Karrah versuchte, ruhig zu bleiben, doch als sie sprach, überschlug sich fast ihre Stimme: »Dann werden wir ihn eben mit einer Armee befreien! Ruf nach deinem Bruder, wir müssen …«
Melvin stellte sich ihr in den Weg und schüttelte den Kopf. Noch immer hielt er die Nachricht aus Nohva in den Händen und strich das Pergament nun glatt.
Karrah sah verwundert zu ihm auf.
»Es tut mir leid, Liebste«, hauchte er, »aber es ist zu spät.«
Sie schüttelte nur den Kopf, außerstande, etwas zu sagen.
Melvin fasste sie an der Schulter und wollte sie zur Fensterbank führen, damit sie sich setzte. Ihre Kräfte schwanden bereits von Tag zu Tag, er ertrug es allmählich nicht mehr, sie so zu sehen.
Aber Karrah wehrte sich gegen seinen sanften Griff mit energischer Wut. Sie schob ihm ihren greinenden Sohn in die Arme, und Melvin war gezwungen, ihn an sich zu nehmen.
»Dann werde ich eben mit Melecay sprechen!«, beschloss sie und raufte schon die Röcke.
Melvin stellte sich ihr erneut in den Weg, seinen Sohn auf den Armen wiegend.
»Karrah, meine Liebe«, begann er eindringlich, »nichts, was wir hätten tun können, wäre jetzt noch von Belang. Du weißt, wie weit der Weg von hier nach Nohva ist, und wie lange die Nachricht brauchte, um hier einzutreffen. Desiderius … Dein Vater, er wird bereits heute hingerichtet.« König Rahff lehnte Großkönigs Melecays Forderung, ihn Carapuhr auszuhändigen, ab; es war zu spät für eine Rettung.
Karrah hatte Tränen in den violetten Augen, sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. »Dann gehen wir mit Melecays Armee durch das Portal!«
»Melecay liegt noch immer krank im Bett, und selbst wenn er wohl auf wäre, wäre es uns wohl kaum möglich, jetzt wie durch ein Wunder herauszufinden, wie wir das Portal benutzen können, ohne den Schlüssel, den Nohva besitzt!«
Karrah wusste besser als alle anderen, dass sie das Portal von dieser Seite aus nicht nutzen können. Und für eine Seereise war es zu spät.
Melvin schüttelte den Kopf, als er sah, wie seine Frau noch blasser wurde und sich eine Hand auf die Brust legte. Tränen des Unglaubens traten ihr in die Augen und sie schwankte.
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