»Es tut mir so leid«, sagte er aufrichtig zu ihr. »Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.«
Karrahs rote Lippen standen offen, während ihr bewusstwurde, dass sie ihren Vater nicht retten konnte, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Melvin wusste, dass nun die Zeit war, da sie ihn brauchte, körperlich brauchte.
Er streckte einen Arm aus und legte ihn um sie. Mit seinem Sohn zwischen ihnen beiden umarmte er sie und ließ ihr Zeit, den Schock erst einmal sacken zu lassen. Es war noch zu früh für sie, um es zu begreifen, am Abend wäre es vielleicht soweit, dass sie im Stande war, um Desiderius zu weinen.
Nach einem Moment löste sie sich von ihm und strich ihr Kleid glatt. Sie hatte sich soweit gefangen, um zumindest äußerlich Haltung zu bewahren.
Melvin beugte sich vor und küsste ihre Wange. »Ich liebe dich. Und ich bin da für dich, wenn du mich brauchst.« Auch Melvin trauerte, denn er hatte Karrahs Vater immer gemocht, auch wenn dieser immer misstrauisch ihm gegenüber war. Aber Melvin hatte ihn respektiert, weil sie beide dasselbe wollten: Karrahs Sicherheit.
»Ich muss wieder in den Krankenflügel«, sagte sie wie betäubt.
Melvin runzelte die Stirn. »Karrah, du solltest dich ausruhen!«
»Nicht jetzt!«, beschloss sie. »Er braucht mich.«
»Sein Zustand hat sich in den letzten Monaten nicht verändert«, versuchte Melvin ihr begreiflich zu machen, »ich sage nicht, du sollst es aufgeben, aber du musst auch auf dich achten. Schlaf, iss und schone deine Kräfte. Dein Sohn braucht dich ebenso wie es dein Vater tut.«
Karrah sah ihn zornig an. »Wenn du denkst, ich wäre keine gute Mutter …«
»Das ist ja das Problem!« Melvin senkte einfühlsam und verständnisvoll die Stimme. »Du versuchst, beides zu sein. Eine gute Tochter und eine gute Mutter, und beides laugt dich aus. Ich will nur nicht, dass du krank wirst.«
Karrah lächelte zu ihm auf und nahm sein Gesicht zwischen ihre warmen Hände. Sie zog ihn zu sich hinab und küsste ihn auf den Mund. Dann sah sie ihm in die Augen und sagte beschlossen: »Du kannst nichts tun, um mich davon abzuhalten, mich für die aufzuopfern, die mich als ihre Tochter aufzogen. Vor allem jetzt nicht, da ich den einen verloren habe.«
»Dann tu, was du tun musst, aber mach dir keine Hoffnung. Die Wunde an seinem Kopf war einfach zu schwer.« Melvin sah sie traurig an. »Ich wünschte nur, es wäre keine vergeudete Mühe, Karrah.«
Denn so wie er das sah, würde Wexmell nie wieder die Augen öffnen. Dafür schlief Nohvas wahrer Kronprinz leider schon viel zulange.
Der viele Wein am Vorabend hatte für einen äußerst kurzen Schlaf gesorgt. Schon in den frühen Morgenstunden ritt Cohen auf Galias Rücken durch den von Sonnenlicht durchfluteten Wald. Die Baumkronen zeigten bereits die ersten Sprossen. Cohen konnte die kleinen Vogelarten dabei beobachten, wie sie ihre Nester in den knochenartigen Ästen bauten, die gen hellblauen, wolkenlosen Himmel griffen.
Selbst hier, wo er sich bemühte, nur der Melodie der Singvögel zu lauschen, durchbrach die Sorge um die Zukunft seine Gedanken. Letzte Nacht hatte er vielleicht, oder vielleicht auch nicht, ein Kind gezeugt. Noch ein Kind, das im Krieg aufwachsen musste. Vielleicht würde er nie erfahren, ob Sigha überhaupt schwanger war, wenn die Rebellen oder die Goldis – im schlimmsten Fall sogar beide – die Angriffe auf die Länder der frommen Lords wieder aufnahmen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Cohen und seine Männer wieder ausrücken mussten.
Und zu allem Überfluss hatte Arrav in der letzten Nacht etwas angedeutet, dass Cohen sehr verstörte.
Er hatte das Gefühl, für seine Männer die Verantwortung zu tragen, so wie er sie für seine Kinder trug, aber wie sollte er sie beschützen, wenn sie so freizügig rausposaunten, dass sie die ein oder andere Todsünde im Kopf hatten.
Cohen konnte letztlich nur hoffen, dass Arrav klug genug war, um vorsichtig vorzugehen oder um am besten gleich die Finger davon zu lassen. Aber Cohen ahnte bereits, dass es einfach bestimmte Dinge gab, die man nicht ignorieren konnte.
Verlangen war eines davon.
Mit müde hängendem Kopf trottete Galia über den moosbedeckten Boden, die Tiefen Wälder grenzten an dieses Waldstück, das in der Nähe der Burgmauer entlangführte. Cohen kam gerne hier her, weil es hier so still war. Außerdem beobachtete er mit Sorge den Verfall der Mauer auf dieser Seite. Ruinen, die an den Kerker grenzten, waren direkt hinter der rissigen Mauer, weshalb die Instandsetzung dieses Abschnitts immer wieder aufgeschoben wurde. Einst hatte es hier auch eine Tür gegeben, die jedoch auf Befehl seines Vaters hin zugemauert worden war. Trotzdem, sie mussten sich bald diesem Problem stellen und die Mauer wieder standfester gestalten, denn die Festung sollte weiterhin uneinnehmbar bleiben.
Cohen ritt bergab und überließ es Galia, die Geschwindigkeit zu bestimmen. Das angenehme Schaukeln in seinem schwarzen Ledersattel machte Cohen wieder schläfrig. Er fühlte sich, als habe er nur für einen Moment im Bett gelegen, bevor der Wein wieder aus seinem Körper hinauswollte und er gezwungen war, wieder aufzustehen. Mit starken Kopfschmerzen hatte er am Tisch gesessen und zum Frühstück eine Schale warme Milch getrunken, während er sich zusammenreißen musste, wegen seines schlechten Zustandes seine miese Laune nicht an Ilsa und Marks auszulassen, die aufgedreht um ihn herumgesprungen waren und mit ihm spielen wollten.
Sigha hatte sich ein Herz gefasst und ihn erlöst, indem sie die Kinder mit auf den Markt nahm. Daraufhin hatte Cohen das Haus verlassen, um mit seiner anderen »Lady« einen Ausritt zu machen.
Er beugte sich vor und vergrub die Finger in Galias flauschigem Fell. Sie war ein stämmiges Pferd, mit breitem Rücken und kräftigen Beinen, ihr Hals war eher kurz aber dafür sehr muskulös. Ihre Mähne und ihr Schweif waren dunkel, ihr Fell hellbraun. Sie war eine Schönheit und absolut stur. Schon als Fohlen musste sie immer ihren eigenen Kopf durchsetzen. Der Züchter hatte gesagt, sie sei nicht zu gebrauchen, aber Cohen hatte darauf bestanden, sie zu behalten. Statt eines Hengstfohlens hatte er Galia ausgesucht und eigens zugeritten. Erst war sie nur sein »zu Hause Pferd« gewesen, aber nachdem er fünf vollblütige Hengste im Krieg verloren hatte, gab es keinen weiteren Nachschub, erst im nächsten Jahr wieder. Deshalb war sie nun die erste Kriegsstute in der ganzen Armee, und sie war das beste Pferd unter all den anderen.
Cohen ritt weiter und bemerkte nach wenigen Augenblicken einen funkelten Gegenstand abseits des Trampelpfades. Ein Sonnenstrahl traf genau darauf, das Licht spiegelte sich darin. Er zog die Zügel herum und lenkte die unwillige Galia vom Trampelpfad ab, ein Stück in die Tiefen Wälder hinein.
Cohen stieg ab und ging in die Hocke. Etwas Silbernes lugte unter einem Moosbüschel hervor. Er zog einen Dolch und grub es aus.
Es war ein weiterer Dolch, sehr alt, die Klinge war verrostet. Behutsam entfernte Cohen den Dreck von der Klinge. Er entdeckte unterhalb des Hefts zwei eingravierte Buchstaben. »D.M.«
Er wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, vermutlich waren es nur irgendwelche Initialen. Angesichts des Zustandes, in dem sich das Messer befand, schloss er, dass der Dolch schon einige Jahre der Witterung ausgeliefert gewesen sein musste. Cohen steckte ihn trotzdem ein, und zwar in den Stiefelschaft, vielleicht könnte der Schmied den Dolch wieder kampffähig machen. Dann führte er Galia weiter, bis er zu seiner Lieblingslichtung kam.
Von dort aus hatte er einen idealen Blick von unten auf die Schwarzfelsburg, die wie ein Berg zwischen anderen Bergspitzen emporragte. Die Wiesen vor den Mauern waren grün, es war kein Schnee vom Winter mehr zu entdecken, und die Sonne strahlte auf den schwarzen Stein der Burg. Es war ein atemberaubender Anblick.
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