»Cohen hat mir das Leben gerettet, ganz allein«, fuhr Arrav fort, »mit einigen Pfeilen und einem Bogen, und auch mit dem Schwert; er kann mit allem umgehen. Er stellte sich ganz allein gegen eine Gruppe Angreifer, nur um mich zu retten, und er siegte, wie meine Anwesenheit hier deutlich beweist.«
»Ist das wirklich wahr?«, fragte Misa ungläubig.
Die vier Männer nickten zustimmend, obwohl sie etwas übertrieben. Cohen war ein guter Kämpfer und er war listig und geschickt, jedoch auch nicht unverwundbar. Die Feinde hatten Cohen verletzt, doch er hatte einfach Glück gehabt. So war das eben manchmal.
»Er befreite mich«, sagte Arrav und konnte kein Lächeln verbergen, »und ich bin ihm bis heute mein Leben schuldig.« Er prostete Misa zu und trank von seinem Wein.
»Ich weiß noch, dass wir dachten, beide seien verloren«, erinnerte sich Solran und sah mit einem Blick ins Leere, der in die Vergangenheit reichte. »Noch heute sehe ich, wie der Umriss eines Mannes im Morgenrot auftauchte – und Cohen, überströmt mit fremden Blut, aus dem Wald trat, den nackten und gefolterten Arrav über seinen Schultern.«
Iksbir und Ugrath nickten. »Ein Anblick für die Götter.«
Arrav konnte nicht in Worte fassen, wie viel er für Cohen empfand, seit dieser sein ganz persönlicher Held gewesen war. So etwas verband auf eine Weise, die ein Außenstehender nie begreifen würde. Kameraden im Krieg waren mehr als Brüder.
Misa sah sie nacheinander an und senkte dann entmutigt den Kopf. Er starrte in seinen Becher und hauchte: »Ich hatte Angst, als ich zusah, wie die Soldaten aus Dargard diese Priester abschlachteten.«
»Angst zu haben ist keine Schande«, sagte Arrav versöhnlich. »Wir haben alle Angst.«
Der Junge hob den Kopf und blickte sich unsicher um. Er sah die Gesichter von vier ernsten Männern, die ihm bestätigend zunickten. Das brachte ihn wieder zum Lächeln.
Eine Weile blieb es still, während sie alle ihren eigenen Gedanken nachhingen. Arrav sah sich in der Taverne um, Fackeln und Kerzen spendeten nur spärlich Licht, es gab viele dunkle Ecken. Die Jagdtrophäen an den Holzwänden warfen düstere Schatten, und Spinnen kamen aus ihren Löchern, um die zahlreichen Netze nach Beute abzusuchen.
»Ob sie ihn zum Erben machen?«, fragte Arrav leise in die Runde. Er musste nicht erwähnen, wen er meinte, es lag auf der Hand, denn es gab nur einen Sohn des Königs.
Die anderen wirkten wenig hoffnungsvoll.
Solran antwortete mit ebenso leiser Stimme: »Wollen wir es hoffen.«
»Nein«, warf Iksbir ein, »wollen wir hoffen, dass er dann dazu bereit ist.«
Arrav trank wieder von seinem Becher. Er und seine Männer würden nie von Cohen erwarten, dass er den König verriet. Ihnen allen ging es seit der Hinrichtung des letzten Prinzen lediglich darum, Cohen dazu zu bringen, sein Recht auf das Erbe einzufordern. Cohen wäre ein besserer Monarch als die Schavellens – die keinerlei Recht auf die Krone hätten. Darüber hinaus hofften Arrav und seine Freunde, das Cohen, sollte der unglaubliche Fall eintreten und er König werden, bereit dazu war, mit den Rebellen Frieden zu schließen und die Zwänge der Kirche zu lockern. Um ihretwillen. Um den Willen ihrer bereits geborenen und ihrer zukünftigen Kinder.
Arrav und die anderen waren nicht gegen ihren König. Im Gegenteil, sie respektierten Rahff, weil sie alle ohne ihn bereits tot wären. König Rahff hatte zumindest eine Lösung gefunden, auf seine Weise für die Bastarde seiner Heimat zu sorgen. Zwar waren sie dazu verdammt, alle miteinander Soldaten zu sein, aber das war immer noch besser als ohne Aussicht auf ein besseres Leben auf den Straßen zu verrotten. Arrav wusste, wie hart das Leben ohne Dach über den Kopf war, ohne eine Aufgabe, ohne die Möglichkeit, auf ehrliche Weise Silber zu verdienen, denn er war einst eine Straßenratte gewesen.
Und dann war der König in die Straßen von Dargard gekommen und hatte ihn mitgenommen, ihn einer Ausbildung unterzogen und ihm einen Sinn gegeben, schließlich hatte er ihn in den Reitertrupp seines Bastards gesteckt und Arrav hatte Cohen kennen gelernt, durch den er schließlich zu einem Volkshelden wurde. Arrav würde König Rahff deshalb immer respektieren, trotzdem hoffte er, dass es irgendwann eine Zukunft gab, in der auch ein Bastard mehr als ein verpflichteter Soldat sein konnte.
Arrav ließ den Blick wieder durch die Taverne schweifen, seine Augen blieben an der Schankwirtin hängen, die mit zwei vollen Weinkrügen durch den Raum ging. Ihre Hüften wiegten, ihr üppiger Busen wippte bei jedem Schritt. Arrav sah ihr nach, beneidete sie in diesem Moment um ihre Weiblichkeit – doch dann öffnete sich die Tür und seine Augen erfassten etwas viel Ansehnlicheres, das sogleich Hitze in ihm aufkommen ließ.
Cohen kam herein, er torkelte – was ungewöhnlich für ihn war –, sein braunes Haar stand ihm vom Kopf ab, als habe er es sich gerauft, seine Kleider waren unordentlich, als habe er sich in Eile angezogen und nicht darauf geachtet, welches Erscheinungsbild er abgab. Er trug nur eine schwarze Lederhose, einen schiefhängenden Schwertgürtel und ein weißes Hemd, dessen Schnürung offenstand, sein Mantel fehlte.
Arrav war es, der einen Pfiff ausstieß, um ihren Kommandanten auf sie aufmerksam zu machen.
»Was will er hier?«, fragte Iksbir verblüfft, nachdem er sich auf seinem Stuhl umgedreht und Cohen erspäht hatte. Es kam selten bis nie vor, dass Cohen sich hier blicken ließ, er lehnte jedes Vergnügen ab, das sie ihm anboten.
Arrav zuckte nur mit den Schultern, als Cohen zu ihrem Tisch geschlendert kam.
Misa rückte respektvoll beiseite und starrte Cohen an, als sei er ein Gott oder etwas ähnlich Erhabenes.
»Wein für unseren Kommandanten!«, rief Solran einem der Mädchen zu. Sofort beeilte sich die Dame mit den hellbraunen Locken, des Königs Bastard einen besonders vollen Becher Wein einzuschenken.
Cohen lehnte sich, sobald er saß, mit den Ellenbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen, er beachtete das Mädchen gar nicht, das ihm Wein brachte und versuchte, ihm schöne Augen zu machen. Die Frauen würden sich jeden Finger einzeln ausreißen, wenn sie nur ein Stück vom Bastard ihres Königs haben könnten.
Und wer konnte es ihnen verübeln? Cohen war ein besonders schönes Mannsbild, wie Arrav immer wieder erstaunt selbst feststellen konnte.
»Harter Tag?«, fragte Solran, der für Cohen eine Art Onkel war.
Cohen seufzte und hob den Kopf, während er gleichzeitig in einer so fließenden Bewegung den Becher in die Hand nahm, dass es für einen Moment so wirkte, als wollte er ihn vom Tisch fegen.
»Hart, ja.« Cohen trank einen großen Schluck, es war ihm anzusehen, dass es nicht sein erster Becher war. »Und lang.«
»Erwartet dich nicht deine Frau?«, fragte Arrav, ohne zu bemerken, wie bissig er klang.
Cohen bemerkte es ebenfalls nicht, er antwortete: »Ich war bereits bei ihr, sie schläft jetzt.«
Das sagte mehr aus, als Arrav wissen wollte. Grimmig klaubte auch er seinen Becher auf und trank ihn aus. Er winkte einem weiteren Mädchen, die Becher aufzufüllen. Sie kam mit zwei Krügen und ließ sie auf dem Tisch stehen.
Arrav griff danach und schenkte sich und dann Cohen ein. Der Kommandant bedankte sich mit einem stummen Nicken und trank den Becher zur Hälfte leer. Es schien immer noch nicht genug zu sein.
Mit Neugierde, die nichts mit Cohens Verhalten zu tun hatte, betrachtete Arrav ihn eingehend. Sein Gefährte war groß wie alle Menschen aus dem Gebirge, doch wesentlich schlanker, was ihn zu einer schnellen Waffe gemacht hatte. Unter dem weißen Hemd zeichneten sich deutlich seine muskulösen Arme ab und hinter der Schnürung konnte Arrav die ausgeprägten Brustmuskeln erkennen, die von einem weichen Flaum dunkler Härchen bedeckt waren. Cohen besaß einen langen, schlanken Hals und einen kleinen, wohlgeformten Kehlkopf, auf dem ein wirklich ansehnlicher Kopf saß. Schmale, zu gleichenteilen weibliche und männliche Züge hafteten ihm an. Seine Lippen waren voll, seine Nase gerade, mit einer abgerundeten Spitze, seine Augen waren groß und von dichten Wimpern umrandet, und die schwarzen Pupillen waren von einem Meer aus braunroter Farbe umgeben, die an das Fell von jungen Rehkitzen erinnerte. Sein Haar besaß ein kräftiges Dunkelbraun, das in dunklen Räumen, wie hier, schwarz wirkte, aber bei Tageslicht rötlich schimmerte. Alles in einem war es kein Wunder, das Frauen hinter ihm her waren, wie Rüden hinter einer läufigen Hündin. Und trotzdem war Cohen seiner Frau nie untreu gewesen. Sofern Arrav wusste.
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