Aber diese Augen … Oh diese skeptisch dreinblickenden, immer argwöhnischen und klugen Augen, die von dunklen, langen Wimpern umrandet waren, besaßen einen Glanz, ein mysteriöses Funkeln, das einem nicht mehr aus dem Kopf ging.
Er kannte ihn.
Der Vergessene war sich noch nie so sicher gewesen, nicht seit er seine Erinnerung verloren hatte. Er kannte diesen Bastard. Aber so sehr er auch versuchte, sich an ihn zu erinnern, immer wieder blockierte eine unsichtbare Wand in seinem Kopf die Erinnerung.
Doch es war nicht allein das Gefühl, dass sie sich kannten, was ihn seit ihrer Begegnung durchgehend an den Bastard denken ließ. Es war die Güte, mit der er einem Todgeweihten begegnet war.
Nein, nicht nur einem Todgeweihten, sondern auch einem Feind. Wenn der Bastard nicht log – und er bezweifelte doch stark, dass diese Augen lügen konnten – dann hatte der Vergessene den Großvater des Bastards getötet. Doch als er die Möglichkeit hatte, sich dafür an ihm zu rächen, hatte er es nicht getan. Im Gegenteil, er hatte den Vergessenen von der Folter erlöst und ihm auch noch das Gesicht gewaschen.
Noch jetzt spürte der Vergessene die wohltuenden Berührungen auf Wangen und Stirn, er konnte sich in jenem Moment kein Seufzen verkneifen, das in Anbetracht der Situation etwas zu entspannt wirkte.
Er war seinem Feind gestern schutzlos ausgeliefert worden, und laut den Worten des Bastards, hätte er wohl jede Folter verdient, doch statt seine Lage auszunutzen, hatte der Bastard ihm sogar etwas Gutes getan. Ihm in seiner größten Not einen kleinen Trost gespendet.
Warum, wenn sie doch Feinde waren?
Auch diese Art von Güte kam ihm bekannt vor. Ein brennender Schmerz umhüllte sein Herz, doch sein Kopf wollte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann und bei wem er schon einmal solche Güte kennen gelernt hatte.
Frustriert ließ er den Kopf hängen und griff sich an die immer schmerzende Stirn.
»Woran denkst du?« Eagles Frage war das hoffnungslose Flüstern eines Mannes, der wusste, dass er bald sterben musste.
Grimmig starrte der Vergessene vor sich, gedankenverloren spielte er mit dem goldenen Fuchsanhänger in seinen Fingern. In ihm keimte der Gedanke auf, dass er hier nicht sterben wollte. Nicht einmal nur, weil er dem Tod entgehen wollte. Nein. Etwas in ihm regte sich, seit er den Bastard gesehen hatte, etwas, das zwar ein Teil von ihm war, aber doch nicht gänzlich zu ihm als Mann passte. Es war etwas Animalisches, etwas Uraltes, in ihm verankertes, das zum Leben erweckt wurde.
Er hatte noch etwas zu erledigen, dessen war er sich sicher. Doch er konnte beim besten Willen nicht erklären, woher er dieses plötzliche Wissen nahm.
Er schüttelte verdrossen den Kopf, weil er ja doch nichts an seiner Lage ändern konnte, und antwortete auf Eagles Frage: »An das Ende.«
Und dann kamen die Wachen, um sie zum Henker zu führen.
***
Die Sonne ragte oben am Himmel und strahlte auf die Hinrichtungen hinab. Cohen saß zusammen mit dem König, Lord Schavellen, Cocoun und Cocouns Frau – eine wunderschöne blonde Frau mit zierlichem Körperbau und freundlichem Gesicht, die besseres als diesen Sadisten verdiente – auf einem der Balkone der königlichen Burg.
Von hier oben aus hatten sie nicht nur einen guten Blick auf die Geschehnisse im Hof, auch sie waren für die Zuschauermenge – eine beachtliche Zahl war aus allerlei Dörfern hier erschienen um dem beizuwohnen – gut sichtbar und deutlich präsent.
Ebenso gelangweilt wie sein Vater, lehnte Cohen in seinem gepolsterten Stuhl und sah dabei zu, wie die Gefangenen gehängt oder geköpft wurden. Immer vier wurden zum Galgen gebracht, immer zwei zu den Henkern mit ihren großen Stahläxten. Cohen empfand keine Freude beim Zuschauen und fühlte sich keineswegs dadurch unterhalten, ganz anders die Menschenmenge, die jubelte, während andere sterben mussten.
Das Volk bewarf die Verurteilten mit faulem Obst, schubsten, schlugen und traten nach ihnen, wenn sie vom Kerker durch die Menge getrieben wurden, die Hände mit Seilen vor den Körpern zusammengebunden. Es zog sich endlos lange hin, und wäre es nicht seine Pflicht gewesen, hier zu sein, wäre er gegangen.
Doch zum einen wollte er den Kriegsgefangenen den nötigen Respekt erweisen, indem er ihren Tod betrachtete und annahm – Cohen empfand es als Schande, wenn er weggesehen und ihnen nicht die letzte Ehre erwiesen hätte –, und zum anderen spürte er deutlich Lord Schavellens und Cocouns verachtende Blicke auf sich ruhen. Cohens »Beförderung« war also im vollen Gange, der König musste bereits alle davon in Kenntnis gesetzt haben.
Cohen wusste nicht, ob er sich darüber freute. Ehrlich gesagt, war ihm danach, sich in sein Schwert zu stürzen.
Er sah hinab in die Menge und fand seine Männer weit hinten am offenem Hoftor, die mit ernsten Mienen die Hinrichtungen verfolgten. Er wusste, dass er als König die Macht hätte, ihnen ein besseres Leben zu schenken. Doch was war mit all den anderen? Es war gewiss nicht einfach, ein Herrscher zu sein, schon gar nicht, wenn man in Wirklichkeit nur ein Lakai fanatischer Kirchenangehörigen war, die nichts mit der eigentlichen Religion seines Volkes zu tun hatten. Immerhin predigten die alten Schriften von Frieden, Gnade und Vergebung. Doch die Anhänger der Kirche nutzten ihre Macht nur dazu, um ihre eigene Mordlust zu stillen. Lord Schavellen war einer davon.
Die Priester, die Cohen während seiner Ausbildung kennengelernt und lieben gelernt hatte, waren anders als die Männer, die angeblich die Gesetze ihrer Religion vertraten. Einige dieser Priester, die Cohen als junger Bursche gekannt hatte, waren sogar zu den Rebellen übergelaufen. Und das sagte doch schon alles aus.
Wie sollte Cohen mit all diesen intriganten Fanatikern umgehen, wenn nicht einmal sein kluger Vater es vermocht hatte, sich von ihren Ketten zu befreien. Und das alles verdankten sie der unüberlegten Hand seines Großvaters, der um jeden Preis die Krone hatte an sich reißen müssen. Hätte Rahff der Erste klüger gehandelt, hätte er nicht die Kirche als Fundament für seine Herrschaft ausgewählt und damit veranlasst, dass Fanatiker das gesamte Land ins Chaos führten. Aber Cohen hatte schon lange den Gedanken, dass es vielleicht genauso geplant gewesen war.
Cohens Vater schielte ihn von der Seite an und rang sich ein mitfühlendes Lächeln ab. Sicher wusste er, was seinem Sohn durch den Kopf ging, so wie immer. Es war erstaunlich, wie gut Rahff seinen Bastard kannte. Cohen hatte als Kind meist schon Ärger für Streiche bekommen, die er nur als Gedanken geformt hatte. So, als hörte sein Vater, was er dachte. Anfangs hatte er seinen Vater deshalb für eine Art Zauberer gehalten, doch heute wusste er, dass Rahff ihn einfach nur sehr gut durchschauen konnte.
Es gab jedoch ein Gutes daran, wenn Cohen tatsächlich den Thron erben sollte. Sigha und die Kinder hätten ein schöneres, angenehmeres Leben. Außerdem würde Marks, als Cohens Erstgeborener, Kronprinz werden. Was wiederrum bedeuten würde, dass die Krone an Raaks Erben gehen sollte. König Rahff wusste als einer der wenigen davon, dass Marks und Ilsa Raaks Kinder waren, was – so vermutete Cohen – zu seiner Entscheidung beigetragen hatte, Cohen zum Erben zu ernennen.
Doch noch war Rahff nicht zu alt und noch war er potent genug – soweit Cohen wusste – um mehr Söhne zu zeugen. Der König konnte sich eine weitere Frau nehmen – Raaks und Sevkins Mutter starb schon vor Jahren an einer Lungenkrankheit – und vielleicht noch einen Erben hervorbringen. Aber sollte er sterben und keinen weiteren männlichen Erben gezeugt haben, so würde dann wohl Cohen den Thron besteigen.
Welch seltsame Vorstellung.
Der König beschloss, seinen Sohn aufzumuntern, und lehnte sich vertraut zu ihm hinüber, um ihm mit rauer Stimme zuzuflüstern: »Von all meinen Frauen, liebte ich deine Mutter am meisten.«
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