Doch dazu würde es nicht mehr kommen.
Der Vergessene blickte schließlich hinab auf den Richtblock. Es war deutlich zu sehen, dass hier heute viele Köpfe gerollt waren. Blutlachen waren zwar mit Stroh weggewischt worden, doch die dunkelrote Flüssigkeit war tief in die Holzfasern gesickert.
Die Sonne, die auf ihn hinab strahlte, ließ erkennen, dass das Blut noch frisch war. Es stank in der Hitze.
Jetzt war ihm so speiübel, dass er nur mit Mühe ein Würgen unterdrücken konnte. Seine Beine zitterten, und sein Atem stockte.
Er sah zu Eagle, der die Augen schloss und leise fluchte, auch er zitterte, sogar am ganzen Leib. Seine Hose färbte sich im Schritt dunkel; und er fluchte noch mehr.
Sie wurden auf die Knie gestoßen, woraufhin die Menge verstummte.
Ein fettleibiger Mann mit schütteren, ergrauten Haar, der eine rotweiße Robe trug, auf deren Brust das Zeichen einer halben Sonne und eines halben Mondes gestickt war, betrat das Podium und begann damit, zuerst Eagles Vergehen vorzulesen.
Als er anfing, seine Liste runter zu rattern, sahen sich Eagle und der Vergessene vollkommen verwirrt an. Es war ohnehin seltsam, dass Eagle als einfacher Dieb nicht zum Galgen geführt wurde. Die Enthauptung wurde nur bei Kriegsgefangenen durchgeführt, nicht aber bei gewöhnlichen Dieben.
Laut dem Kirchenangehörigen soll Eagle ein Verräter der Krone sein, dem es verboten war, Nohva zu betreten – ganz wie bei dem Verlassenen – und der aufgrund dessen, dass er in den königlichen Ländereien aufgegriffen worden war, zum Tode durch das Richten mit blutiger Hand verurteilt wurde.
Dann kam der Vergessene an die Reihe. Er hoffte darauf, seinen Namen zu erfahren, aber dieser Wunsch blieb ihm verwehrt.
»Der hier kniende Mann ist ein Königsmörder«, verkündete der Vorleser, »der trotz Verbannung unbefugt zurück nach Nohva kehrte und deshalb auch – wie der junge Mann neben ihm – zum Tode durch das Richten der blutigen Hand verurteilt wird.«
Der Vergessene blickte noch einmal hinauf zum Balkon und sah den Bastard des Königs den Kopf schütteln, als wollte er ihm sein Bedauern kundtun. Seltsamerweise fand er in den Augen seines vermeidlichen Feindes Trost.
»Mögen die Götter im Himmelsreich über Euch richten«, endete der Priester und verließ – die Schriftrolle zusammenrollend – das Podium in großer Eile, als habe er Angst, Blut könnte das reine Weiß seiner Robe besudeln.
Eagle und der Vergessene wurden gezwungen, sich vorzubeugen und die Köpfe abzulegen, ihre Hände blieben vor ihren Körpern zusammengebunden.
Der Vergessene schloss die Augen, hielt es aber dann doch nicht aus, nur darauf zu warten, dass der Henker sein Richtbeil schwang. Er musste es sehen und öffnete die Augen. Und so blickte er plötzlich direkt in Eagles Gesicht. In jenem Moment leuchtete ein Strahl der Sonne direkt in Eagles Augen und ließen sie in voller Pracht erstrahlen. Augen, die der Vergessene kannte, in der finsteren Zelle aber kaum zu erkennen gewesen waren.
Augen wie Eis. Eisblaue Augen!
Dann geschah plötzlich alles in Zeitlupe. Der Vergessene erinnerte sich nicht, wo er diese Augen schon einmal gesehen hatte, aber sein Herz machte einen Satz und schlug dann schneller als zuvor. Eagle durfte unter keinen Umständen sterben!
Der Vergessene musste ihn retten!
Etwas Großes erwachte in ihm und regte sich …
Noch einmal lächelte Eagle, es wirkte verkrampft. »Wir sehen uns in der Nachwelt …«
Der Vergessene sah dabei zu, wie die Axt auf den Nacken seines Freundes zuraste, und wünschte sich noch, er könnte die Zeit anhalten. Doch die Schneide der Axt zerbrach an Eagles von Schuppen überzogener Haut, als der Hof plötzlich von einem grellen Licht erfüllt wurde…
***
Während sich alle anderen erschrocken wegdrehten und die Arme hochrissen, um ihre Augen vor dem grellen Lichtblitz zu schützen, saß Cohen einfach nur da und verstand nicht, was vor sich ging.
Auch er sah den Blitz, aber er tat ihm nicht in den Augen weh.
Was er aber durch das Licht sah, das für ihn wie Nebel wirkte, ließ ihn leichenblass werden.
Außerstande, zu begreifen, was vor seinen Augen geschah, musste er tatenlos dabei zusehen, wie sich ein Mann in eine unbändige, zerstörerische Kreatur verwandelte, die alles in ihrer Nähe in und Schutt und Asche zerlegte. Und das, obwohl sie sich gerade erst entfaltet und noch nicht damit begonnen hatte, Rache zu üben.
Als der Blitz die Augen der anderen Anwesenden geblendet hatte, waren erstaunte, etwas ängstliche Rufe zu hören gewesen. Aber als das Licht sich verzog und die Menschen wieder etwas sehen konnten, wurden furchtvolle Schreie laut, die im ganzen Gebirge zu hören waren.
Die Menge begann, in alle Himmelsrichtungen zu fliehen.
Cohen – so wie alle anderen auf dem Balkon – saß wie versteinert da, als der Drache sich entfaltete, seine ledernen Schwingen ausbreitete und einen kreischenden Laut ausstieß, dessen dunkler Wiederhall den Boden erbeben ließ.
Er hatte schon Drachen gesehen, aber in Büchern und auf Gemälden, und die hatten sich nicht von einem Mann in ein Tier verwandelt. Cohen blinzelte verwirrt, er wusste nicht, ob er an seinem Verstand zweifeln sollte.
Vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben, saß Cocoun still und versteinert in seinem Stuhl und wagte nicht einmal zu atmen.
Cohen betrachtete den Drachen wie er einen Feind betrachtete, wie es jeder Soldat getan hätte. Diese Kreatur war mit Abstand das größte Geschöpf, das er je gesehen hatte. Er schätzte – wobei er zugeben musste, dass er nicht gut im Schätzen war – dass der Drache von der schuppigen Spitze seiner Nase bis hin zu der Spitze seines langen Schwanzes fast hundert Fuß lang war.
Der Drache drehte sich und fegte mit seinem Schwanz durch die Menge, dabei erwischte er die Henker. Der Dieb, an dessen Haut das Richtbeil zerbrochen war, lag noch verwirrt auf dem Boden und kam nur langsam zu sich.
Der Drache war noch einmal gute sechzig Fuß hoch, wenn er den Kopf hob, aber vom Boden bis zu seinem Rücken waren es nur etwa fünfundzwanzig Fuß.
Cohen beobachtete, wie die Kreatur sich drehte und hierhin und dorthin schnappte. Sie erwischte einige Wachen, schüttelte sie in ihrem riesigen Maul, aus dem schließlich mit Blut gemischter Speichel troff, und schleuderte die toten Körper in die Menge.
Noch mehr Schreie wurden laut.
Der König kam in Bewegung und sprang mit einem Ruck auf. Er rief seiner Leibgarde zu: »Bogenschützen! Auf die Wälle!«
Sofort eilten einige Männer los. Cohens eigene Männer versuchten unterdessen, die Leute in Sicherheit zu bringen, indem sie die in Panik geratene Menge aus dem Tor winkten.
Cohen betrachtete das Maul des Drachen, in dem sich Zähne, so dick wie ein männlicher Unterarm, befanden. Der Kopf des Drachen machte ihm am meisten Sorgen, obwohl der Hieb mit dem Schwanz auch nicht zu unterschätzen war. Jedoch besaß die Kreatur nicht nur scharfe Zähne, sondern auch gewaltige, geschwungene Hörner, wie die Bergwidder sie besaßen.
Der Drache rammte die vorderen Klauen in den Boden, das Podium unter ihm zerbrach, er streckte den Kopf gen Himmel, um erneut zu brüllen. Es klang nach Triumph.
Die Bogenschützen positionierten sich auf den Wehrgängen über dem Tor und schossen ihre Pfeile ab. Die Geschosse zerbrachen an den braunen Schuppen, die wie eine Panzerung wirkten.
Der Drache bekam nicht einmal einen Kratzer ab.
Der König und Cohen sahen sich fassungslos an. Was sollten sie jetzt tun?
Das Flüstern drang zurück in Cohens Ohr, dieses Mal war es nicht nur in seinem Kopf, er hörte die fremde Sprache deutlich über den Hof wehen; doch er schien der einzige zu sein, der sie hören konnte.
»Ikr vouno oekr psso woulikrfol.«
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