Wie lange war er schon hier? Wie lange war er schon untätig gewesen? Wie lange hielten sie ihn schon hier gefangen?
Zu lange, mochte er meinen. Es kam ihm vor wie eine elend, lange, nicht enden wollende Ewigkeit. Und er wusste, es war erst der Anfang.
»Ich warne dich, Bellzazar!« , erklang in seiner Erinnerung zum aber tausendsten Mal die Stimme des Schöpfers. Bellzazar hatte ihm davon erzählt, dass er den Thron der Unterwelt in seinen Besitz gebracht hatte. Er hatte geglaubt, dem Schöpfer damit einen gewaltigen Vorteil einzubringen, immerhin gab es ohne Thron keinen Fürsten, der ihn erobern konnte. Und ohne Fürst gab es auch keine organisierte Dämonenarmee. Bellzazar hatte angenommen, es würde den Schöpfer erfreuen, dass diese Gefahr gebannt war.
Doch dieser hatte andere Sorgen.
»Es ist nicht nur das Flüstern des Throns, dem du widerstehen musst«, hatte der Schöpfer ihn gewarnt, »es sind die Dämonen, vor denen du dich in Acht nehmen musst.«
Er hatte ja so Recht behalten …
Sie hatten sich zeitgelassen, gewiss, aber sie waren gekommen. Nicht alle, aber einer. Einer, dem selbst die anderen nicht begegnen wollten. Und er hatte Bellzazar, trotz seiner Macht, einfach überwältigen und bannen können.
Nun lag er da, schon seit einer Ewigkeit, ohne dass die Sterblichen, die ihn vermissten und die er mehr liebte, als er zugeben würde, wussten, was ihm wiederfahren war. Augenblick um Augenblick musste er die Qualen der Unterwelt ertragen, ohne ihr überhaupt nahe zu sein. Der Dämon im Schleier hatte alles verdunkelt, selbst die Luft hier brannte bei jedem Atemzug wie Feuer in seinen Lungen.
Was er wollte, was simpel, aber Bellzazar würde sich diesem Willen nie beugen. Nein! Lieber würde er weitere Folter aushalten.
Es gab diese Momente, wenn er allein war, in denen er sich vorstellte, sein Bruder würde spüren, was ihm hier angetan wurde, und ihm zu Hilfe eilen. Doch das war Unsinn, das wusste er. Niemand konnte ihn hier retten.
Doch jetzt war alles anders. Nicht nur er brauchte einen Retter. Das Klingeln in seinen Ohren war unverkennbar gewesen.
Desiderius brauchte Hilfe.
Sein Bruder rief nach ihm.
Komm schon, Zazar, spornte er sich selbst an. Steh auf, Zazar!
Bellzazar biss die Zähne zusammen, bis sein Gesicht rot anlief, und bäumte sich unter Schmerzen auf. Es war, als wäre er mit dem Boden verbunden. Wenn er sich erhob, fühlte sich sein Rücken an, als würde er sich auflösen.
Da musste er jetzt durch.
Unter Grunzen und Stöhnen – er spuckte und Tränen liefen ihm über die feuerroten Wangen – warf er sich herum, mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte. Er landete mit einem lauten »Klatsch« auf dem Bauch und atmete erst einmal durch.
So weit, so gut.
Bellzazars Blick war verschwommen, so lange dauerten die Qualen in seinem Inneren schon an. Der Dämon hatte sein Blut in flüssiges Feuer verwandelt, das ohne Aussicht auf Linderung in seinem Inneren brannte. Sein Magen beinhaltete giftige Säure, wie die grünen Substanzen von einigen Pflanzen aus der Wildnis. Seine Haut schien wie verflüssigt, sie klebte und zog Fäden, wenn er sich vom Boden entfernen wollte. In seinem Kopf herrschte dichter Nebel, und sein Herz wurde beständig von einer unsichtbaren, eisernen Faust umschlossen und zerquetscht.
Bellzazar hatte sich schon oft gewünscht, zu sterben ohne wieder zu kehren, und er hatte nicht geglaubt, dass dieser Wunsch noch größter werden konnte. Er hatte sich gewaltig getäuscht. Noch nie hatte er sich so sehr nach dem erlösenden Tod gesehnt wie jetzt. Ihm wäre alles recht, selbst die Zerstörung seiner Seele, die bedeuten würde, das nichts mehr, nicht eine einzige Erinnerung mehr, von ihm existieren würde.
Aber er würde nicht sterben. Alles was er fühlte, existierte in der Wirklichkeit gar nicht, es war nur in seinem Kopf. Es war nicht echt.
Doch das änderte nichts daran, dass es sich verdammt echt anfühlte.
Los, beweg dich!
Er sah das Portal, das er mit seiner letzten verbliebenen Kraft geschlossen hielt, damit der Dämon nicht in das Reich der Götter gelangen konnte. Bellzazar hob einen Arm und warf ihn nach vorne, er landete schwer, wie ein lebloser, nasser Sack auf dem schwarzen Marmor. Mit gekrümmten Fingern zog er sich über den Boden, mit dem Gefühl, sich die Haut bei lebendigem Leibe abzureißen.
Bellzazar schrie unter unsäglichen Qualen. Aber er hob auch den anderen Arm, um sich weiter nach vorne zu ziehen. Immer weiter kroch er in Richtung Portal, um es zu öffnen und dann hindurch zu gelangen, auf die andere, rettende Seite.
Er musste den Schmerz ignorieren, weil er seinem Bruder helfen musste.
»Du meine Güte!« Ein dunkles Lachen erklang aus den Schatten. »Und ich dachte schon, du hättest aufgegeben, Bruder.«
Bellzazar zog sich ein weiteres Stück vor. »Ich bin nicht dein Bruder!«
»Du bist ebenso unser Bruder, wie du der Bruder der Götter bist«, sagte Bael, Fürst des Krieges. »Deshalb bist du auch so wertvoll für uns.«
Bellzazar zog sich weiter. Er wusste, was Bael begehrte, und er würde es ihm niemals geben, selbst, wenn es ihm möglichgewesen wäre – aber dem war nicht so.
»Zazar, Schatz, gib es auf.« Bael schlenderte hinter ihm entlang, die schweren Schritte seiner schwarzen Lederstiefel waren auf dem Marmor deutlich zu vernehmen. »Du weißt doch sehr wohl, dass ich dich die ganze Strecke bis zum Portal kriechen lasse, nur damit du dir selbst Leid zufügen kannst, um dich dann im letzten Augenblick doch aufzuhalten.«
Bellzazar kroch weiter, eine Blutspur hinter sich herziehend, die nur er sehen konnte, weil sie nur ihn seinem Kopf existierte. Er wusste, dass es sinnlos war, aber, wenn er es nicht wenigstens versuchte, würde er nicht mehr mit sich leben können – falls er das in seinem Fall so nennen konnte.
Als Bellzazar in seiner ihm eigenen Sturheit einfach weiter kroch, seufzte Bael missfällig und schnippte mit den Fingern nach seinem »Helferlein«.
»Levidetha!«, bellte er befehlend.
Kaum war der andere Dämon gerufen worden, packten krallenbesetzte Klauen Bellzazars schwarzes Haar und rissen seinen Kopf derart brutal hoch, dass es ihm fast das Genick brach. »AHHH…«
»Wo willst du denn hin, Zazar? «, säuselte eine verführerisch klingende Stimme direkt in Bellzazars Ohr.
Dann wurde er gepackt und herumgeschleudert. Ihm wurde übel, als er einmal quer durch den Raum flog und schließlich mit einem ohrenbetäubenden Knall wieder auf dem Rücken landete. Er schlug sich dabei den Hinterkopf auf. Das warme Blut, das ihm nun langsam den Nacken hinab rann, war tatsächlich echt.
Ihm war für einen Augenblick schwarz vor Augen und er hob den Arm, um sich mit dem Handballen eine klare Sicht zu reiben.
Unverzüglich sprang der kleinere, hinterhältigere Dämon rittlings auf ihn drauf.
»Levi«, stöhnte Bellzazar, »lass mich gehen!«
»Der Fürst sagt, nein!«, lachte der kleine Drecksack süffisant zurück.
Levidetha und Bael hatten beide ein menschliches Aussehen – menschlicher als so manch anderer Dämon. Beide besaßen rabenschwarzes Haar, weil die Finsternis ihnen von den Zehenspitzen bis zu den Haarspitzen reichte, und pupillenlose, schwarze Augen. Baels Haut war fahl, wie die Haut einer Leiche, während Levidethas Teint noch rosafarben wirkte, ähnlich wie die sanfte, makellose Haut eines Neugeborenen. Dafür war Bael groß und stramm gebaut, er hatte steinharte Muskel unter der zerschlissenen, halb verrosteten Kettenrüstung. Levidetha hingegen war dürr. Nicht schlank, sondern wahrhaftig dürr. Seine Knochen waren mit Haut überzogen, kaum ein Muskel war zu erkennen. Er hatte lange Extremente, die er erstaunlich weit biegen konnte. Arme und Beine waren derart überlang, dass er sie benutzte, um sich ähnlich wie eine Spinne fortzubewegen.
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