»Nie von ihm gehört.«
»Ohne Erinnerung kennst du vermutlich keinen einzigen der Götter.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht einen.«
Das stimmte Cohen fast noch ein wenig trauriger als zuvor. Bei wem sollte der Luzianer Trost finden, wenn er nicht einmal die Götter kannte?
»Udken ist der Gott der Gnade, und Schutzpatron aller Bastarde«, erklärte Cohen. »Bete zu ihm, wenn du morgen vor dem Henker stehst.«
Cohen schob den Hocker zurück und stand auf, als dem Gefangenen etwas ins Auge fiel: »Wer schenkte einem Bastard so etwas Wertvolles?«
Cohen sah an sich hinab und erkannte den winzigen Anhänger, den er mit einem Band aus Ziegenleder um den Hals gehängt hatte. Es war ein Fuchskopf aus geweihtem Gold, gerademal so groß wie ein Fingernagel.
»Ich bekam ihn von der Kirche, nachdem Eid, den ich vor Udkens Schrein ablegte«, erläuterte Cohen. »Ich kämpfe und lebe für die Götter und unsere Kirche.«
Lange sah der Gefangene Cohen in die Augen, und Cohen vermochte nicht zu sagen, was der andere Mann dachte.
»Als dann, ich verabschiede mich.« Cohen wandte sich ab und legte sich seinen Umhang wieder um.
»Kann ich ihn haben?« Es war eine zögerliche, unsichere Frage.
Cohen drehte sich verwundert zu dem Gefangenen um.
»Nur … bis nach meinem Tod.« Er versuchte sich an einem Lächeln, aber seine Angst vertrieb es schnell wieder. »Vielleicht geleitet mich dein Schutzpatron in eine angenehmere Nachwelt.«
»Sofern es den Göttern gefällt«, fügte Cohen streng an. Mörder und Bastarde kamen nicht in das Himmelsreich … Und doch, war es nicht das, was Udken mit seinen Predigten auszusagen versucht hatte? Gnade auch für all jene, die sie nicht verdienten? Cohen verdiente sie ebenso wenig wie der Gefangene, nachdem er auf dem Schlachtfeld so viele Familienväter und Sohne getötet hatte.
Nach kurzem Zögern ging er zurück zur Streckbank, nahm den Anhänger ab und legte die Kette dem Luzianer um den Hals.
Dankbarkeit und Neugierde standen in dem Blick des Luzianers, als Cohen sich abwandte und eilig zur Tür ging.
»Hassen mich alle da draußen?«, fragte der Gefangene mit brüchiger Stimme.
Cohen, der die Hand schon auf der Tür hatte, atmete geräuschvoll aus. Er sah sich über die Schulter und erwiderte: »Ein paar nicht, nein.«
Dann ging er, unendlich froh darüber, dem Luzianer nie mehr wieder begegnen zu müssen, außer bei der Hinrichtung morgen, wo sie nicht miteinander sprechen würden.
»Leu nou Udoucou upll gfourol, nou Hoigf likrf.«
Nur der Körper kann sterben, der Geist nicht.
Das Flüstern verstummte und Cohen war unendlich erleichtert.
Ob die Gerüchte über den Gefangenen nun alle wahr waren oder nicht, würde ab Morgen keine Bedeutung mehr haben. Cohen war froh, diese Bedrohung loszuwerden, obgleich im bewusst war, dass eine Legende damit starb. Doch er trauerte nicht darum, dass die Geschichte dieses berüchtigten Luzianers morgen mit dessen Hinrichtung enden würde.
***
Als Cohen endlich den Kerker und das Flüstern hinter sich lassen konnte, stattete er zum letzten Mal an diesem Tag seinem Vater einen Besuch ab, um ihn darüber zu unterrichten, dass der Gefangene tatsächlich seine Erinnerung eingebüßt hatte – wie auch alle anderen, die durch das Portal zurückgekehrt waren – und dass die Hinrichtungen beginnen konnten. Sogleich machte König Rahff sich auf, um für den morgigen Tag alles in die Wege zu leiten. Und Cohen durfte endlich nach Hause zu seiner Frau.
Ohne Stand war es seiner Familie nicht gestattet, in der königlichen Burg zu leben, er hatte sich mit seinem Sold jedoch ein relativ robustes Haus innerhalb der Burgmauern leisten können – das war mehr, als seine Mutter ihm als Kind hatte bieten können.
Cohen sorgte gut für seine Frau und die beiden Kinder – Ilsa war fünf Jahre und Marks sechs Jahre alt – aber manchmal, wenn er vor dem winzigen Haus stand, das sich an andere, ähnliche Steingebäude reihte, fühlte er sich wie der letzte Versager. Er hatte nie eine Familie gewollt, doch die Götter haben es von ihm verlangt, nun musste er die Verantwortung für die drei Menschen tragen, die von ihm abhängig waren. Aber wie sollte er sie beschützen, wenn die Welt unaufhaltsam im Chaos versank. Wie sollte er, ein einziger Mann, seine Heimat vor dem Untergang bewahren? Er konnte nur hoffen, den Krieg so weit wie möglich von seiner Familie fern zu halten.
Als er eintrat, empfing ihn die warme Geborgenheit, die ein Mann nur zu Hause verspüren konnte. Es roch nach Fruchtauflauf und warmer Milch. Fleisch konnten sie sich selten leisten, aber sie taten ihr Bestes, um die Kinder satt zu bekommen. Im Kamin prasselte ein Feuer, daneben entdeckte Cohen seinen treuen Hund, der sich verbotener Weise auf dem gemütlichen Sessel zusammengerollt hatte, der dem Feuer am nächsten stand. Der morsche Holztisch, den Cohen einst einem alten Bekannten – einem Tavernen Betreiber – für ein Dutzend Silbertaler abgekauft hatte, stand ungedeckt und verlassen in der Mitte des Raums, viele Kerben waren in der Platte hinterlassen worden. Ein Summen erklang aus der Küche, die hinter dem ungedeckten Tisch lag. Es war warm und dunkel in den winzigen Räumen, weil draußen bereits die Sonne untergegangen war.
Als Cohen die Holztür hinter sich schloss und die abkühlende Abendluft aussperrte, lockte das Geräusch den Familienhund von seinem gepolsterten Sessel.
»Rollo, mein Freund!« Cohen lächelte auf den verzottelten, grauen Rüden herab, den er vor einigen Jahren für die Kinder mitgebracht hatte, und beugte sich vor, um ihn zu streicheln. Rollo reichte ihm bis zu den Knien, er hatte Schlappohren, ein graues, gekräuseltes Fell und eine schwarze Nase mit einem hellbraunen Punkt. Cohen hatte ihn als Welpen in einem abgebrannten Dorf vorgefunden und beschlossen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Die Kinder hatten was davon, ebenso wie der Hund. Es war ein Gewinn für alle Seiten gewesen. Nur Sigha, seine Frau, hatte nicht immer Spaß an Rollo gehabt, dem nicht nur ein Stuhlbein, sondern gleich vier zum Opfer gefallen waren. Außerdem zerriss er mit Vorliebe Kissen, besprang die Beine von Besuchern, verrichtete seine Notdurft in der Küche und stahl alles Essbare aus den Vorratsschränken. Aber egal wie oft sie schimpfte, Cohen wusste, dass Sigha den Hund nur dann wieder hergegeben hätte, wenn jemand ihre Kinder mit gezogener Klinge bedrohen würde.
Der Krach an der Haustür lockte auch die anderen Bewohner aus ihren Ecken.
»Onkel Cohen! Onkel Cohen!«, riefen seine Kinder voller Begeisterung, als sie mit ihren kleinen Füßchen die schmale, steile Treppe hinunterrannten.
Marks warf sich zuerst in Cohens Arme, der sich etwas hinab beugte und mit einem breiten Grinsen seinen Neffen empfing. Er umarmte ihn fest, breitete aber den anderen Arm aus, um auch Ilsa in Empfang zu nehmen. Als sich ihre Arme um seinen Hals schlossen, drückte er beide an sich und hob sie hoch.
»Ach, wie habe ich euch vermisst, ihr kleinen Monster!«, neckte er sie und ließ es sich nicht nehmen, sie länger an sich zu drücken, als sie es wollten.
Schließlich setzte er sie wieder mit den Füßen auf den Boden ab und ging vor ihnen auf die Knie, um sie genau betrachten zu können. Marks war bereits jetzt ein großer und strammer Bursche, er würde ein imposanter Mann werden, genau wie sein Vater, mit dunklem Haar und blauen Augen. Ilsa war eher klein, wie ihre Mutter, mit Pauspäckchen und lockigem, haselnussbraunem Haar; die grünen Augen hatte sie von ihrer Mutter.
Es gab Zeiten, da wünschte er, sie wären die Frucht seiner Lenden. Cohen liebte Kinder, sehr sogar, auch wenn er bei fremden Kinder nie wusste, wie er mit ihnen umgehen sollte. Aber er hatte Ilsa und Marks aufgezogen. Ihren leiblichen Vater hatten sie gekannt, doch, weil sie ihn selten sahen und in der Öffentlichkeit nicht darüber sprechen durften, dass Cohen nicht ihr Vater war, war er für Ilsa und Marks ehe ein Fremder gewesen. Dieser Umstand war sehr traurig, aber nicht zu ändern. Für ihre Sicherheit war es wichtig, dass ihre wahre Abstammung geheim blieb.
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