Die Verfasserin hat ihre langjährige canepädagogische Arbeit sorgfältig ausgewertet. Vor allem ihre Beschreibungen von Einzelfällen belegen, wie unterschiedlich Hunde auf kindliche Verhaltensschwierigkeiten eingehen, und was für vielfältige Effekte tiergestützte Arbeit erbringt. Das wird von den Eltern bestätigt, es geht auch aus der Akzeptanz und der Unterstützung hervor, die Jugendämter der Canepädagogik geben. Auch im System der Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche erhalten Hunde ihren Platz.
Prof. Dr. Erhard Olbrich
Präsident ISAAT
(International Society for Animal-Assisted Therapy)
„Therapieresistent“ und „unerreichbar“ werden verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche oft genannt, die schon die verschiedenen Angebote und Institutionen der Jugendhilfe erfolglos - aber nicht spurlos - hinter sich gebracht haben. Eine tragfähige Beziehung zu den Kindern aufzubauen, scheint in solchen Fällen von konzentriertem Desinteresse und manifestem Misstrauen seitens der Kinder in gleicher Weise wichtig wie unmöglich.
Immer ausgefallener und kostenintensiver werden die Ideen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen, damit Kinder durch Grenzerfahrungen Werte und Lebensinhalte finden können, die es ihnen ermöglichen sollen, wieder in die Gesellschaft integriert zu werden. Erlebnisreisen, Segeltörns und Delphintherapie sind nur einige Beispiele dafür.
Hunde, des Menschen älteste und treueste Freunde, leben mit uns, sind für alle ein selbstverständlicher - mehr oder weniger - beliebter Bestandteil unserer Gesellschaft und Bindeglied zwischen Zivilisation und Natur. Diese Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit und Normalität, mit der Hunde mit uns leben, hat die Bedeutung der Hunde für den Menschen verschleiert, macht sie für manche sogar nebensächlich und unwichtig. Doch gerade in dieser Normalität liegt eine große Chance für die pädagogische und insbesondere für die heilpädagogische Arbeit mit Kindern verborgen. Neben den ersten Erfahrungen in einer stationären intensivpädagogischen Einrichtung für schwerstverhaltensauffällige Kinder und Jugendliche findet die Canepädagogik nunmehr seit 2001 auch in der ambulanten Jugendhilfe erfolgreich Anwendung. Diese zehnjährige Tätigkeit ermöglicht zahlreiche Erkenntnisse und gibt Aufschluss darüber, wie man mit Hilfe von Hunden eine tragfähige Beziehung zu Kindern gestalten kann, um auf dieser Basis pädagogisch sinnvoll mit ihnen zu arbeiten.
Im Teil I dieses Buches sind neben der begrifflichen Klärung auch die heilpädagogischen Grundsätze dargelegt, auf denen die Canepädagogik aufbaut. Für ein besseres Verstehen von auffälligem Verhalten beschäftigt sich dieser Teil auch eingehend mit Verhalten bzw. Verhaltensauffälligkeiten, ihren Ursachen, den psychischen und sozialen Folgen und der großen Bedeutung des Selbstkonzeptes.
Auch die Erziehungspsychologie, die die Bedeutung der Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhaltensrepertoire untersucht, findet hier ihre Beachtung, bevor im Weiteren die Möglichkeiten eines Hundes in der pädagogischen Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen dargestellt werden. Für eine genauere Betrachtung wird eine künstliche Unterteilung in die Kategorien Erziehung mit dem und durch den Hund vorgenommen, die so in der Praxis jedoch nicht existiert. Abschließend beschäftigt sich dieser Teil mit der Didaktik und Methodik der Canepädagogik.
Teil II des Buches stellt die praktische Durchführung der Canepädagogik in den Mittelpunkt. Um den Begriff der Canepädagogik letztlich zu füllen und die Vorgehensweise einer canepädagogischen Förderung transparent zu machen, folgen hier Beispiele sowohl aus der ambulanten als auch der stationären Jugendhilfe.
Der Teil III beinhaltet die systematische Auswertung der zehnjährigen Tätigkeit der Praxis für Canepädagogik von 2001 bis 2010. Dabei wird zunächst eine detaillierte Analyse des gesammelten Zahlen- und Datenmaterials vorgenommen, bevor Erkenntnisse zu den Grenzen, Chancen und Erfolgen der Canepädagogik zusammengefasst und mit Hilfe verschiedener Fallbeispielen anschaulich dargestellt werden.
Wichtig ist bereits an dieser Stelle deutlich zu machen, dass diese Untersuchungsergebnisse nicht den Anspruch haben, strengsten wissenschaftlichen Grundsätzen genügen zu wollen.
Dies ist schon allein deshalb nicht möglich, da diese Ergebnisse nicht das Resultat strenger empirischen oder wissenschaftlicher Studien sind, sondern vielmehr die zahlreichen Erfahrungen und Erkenntnisse langjähriger Praxistätigkeit auch unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven (Eltern, Jugendamt) komprimiert wiedergeben.
Ziel des Buches ist zu zeigen, dass das Konzept der Canepädagogik als sinnvolle Ergänzung und mögliche Alternative zur allgemein anerkannten Verhaltensgestörtenpädagogik zu sehen ist.
Es soll deutlich machen, welchen positiven Einfluss die Hunde auf die Kinder und ihre Entwicklung ausüben und darüber hinaus aufzeigen, wie wichtig auch die Einbeziehung der Eltern für den gewünschten Erfolg ist.
In dem vorliegenden Buch wird aus Gründen der Vereinfachung meist von verhaltensauffälligen Kindern gesprochen; die Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten sind jeweils mit einbezogen. Die Begriffe der Verhaltensauffälligkeit bzw. Verhaltensstörung werden wertfrei und synonym verwendet.
Bei der theoretischen Herleitung des Konzeptes im Teil I wird bewusst sehr eng an der Literatur gearbeitet. Dadurch soll zum einen die starke heilpädagogische Orientierung der Canepädagogik deutlich werden. Zum anderen soll aber auch wissenschaftlich begründet werden, wie wesentlich die von den Hunden entgegengebrachten Verhaltensweisen insbesondere für die Förderung der Entwicklung und Erziehung verhaltensauffälliger Kinder sind.
Zur besseren Lesbarkeit werden bei den Berufsbezeichnungen nur die männlichen Formen erwähnt.
TEIL I KONZEPTENTWICKLUNG
1 Canepädagogik
1.1 Begriffsabgrenzung
Der Begriff Canepädagogik bedeutet Pädagogik mit dem und durch den Hund. Er ist ein Neologismus - meine eigene Wortschöpfung - und leitet sich von dem lateinischen Wort für Hund (Canis) ab. Die Endung ,e‘ entspricht dem Ablativ und steht für das „mit“ bzw. „durch“.
Während Pädagogik als Wissenschaft der Bildung und Erziehung (vgl. KÖCK/OTT, 519) heute oftmals den Schwerpunkt auf die Bildung (z. B. Schule) legt, fokussiert Canepädagogik den Bereich der Erziehung. Sie will Kinder in erster Linie wieder erziehungsfähig und -willig machen, sie in die Gemeinschaft integrieren, um dann mittelbar auch Bildung zu ermöglichen.
Canepädagogik dient der Arbeit mit verhaltensauffälligen, beziehungsgestörten Kindern und Jugendlichen, zu denen der Zugang aufgrund ihrer Biographie auf normalem Wege (z. B. Beratung, soziale Gruppenarbeit etc.) erschwert oder gar unmöglich geworden ist. Kinder, die gelernt haben, niemandem zu vertrauen, sich nur auf ihre Fäuste zu verlassen und jedem Problem mit Gewalt oder Flucht zu begegnen, sind nicht nur für Erzieher und Therapeuten eine (oft zu) große Herausforderung, sondern stellen sich selbst und ihr Umfeld vor immer größere Probleme.
Gemäß § 1 Abs. 1 KJHG hat aber jeder junge Mensch das Recht auf die Förderung seiner Entwicklung und auf die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Um verhaltensauffälligen Kindern, die eben nicht eigenverantwortlich oder gemeinschaftsfähig und darüber hinaus selten förderungs- oder erziehungswillig sind, zu ihrem Recht zu verhelfen, bedarf es einer speziellen und gezielten pädagogischen Unterstützung, die es ihnen ermöglicht, die ihnen angebotene Hilfe annehmen zu können.
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