Ich atme diesen Körper nicht.
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Raus und nochmals von vorne.
Neustart.
Während ich an einem sonnigen Januartag ins Bergische Land fahre, gehen mir Bilder einer wüsten Krankenhausschlägerei durch den Kopf, die ich nicht zuordnen kann. Ich kann mich nicht erinnern, je in einem Krankenhaus gelegen zu haben. Wahrscheinlich habe ich nur geträumt, denke ich, und finde, dass nicht ich, sondern dieses Land krank ist.
Dieses Bergische unterhalb von Köln-Leverkusen. Ich fahre die Autobahn A3 Richtung Süden, Südosten, irgendwo das Siebengebirge und Erinnerungen an Rübezahl und Kinder, die auf Felsen klettern, doch hier, wo ich fahre, ist kein Gebirge, nur flächendeckend Lärmschutzwände aus Beton und gesichertes Gestein, mit Drahtgittern bespannt, die Landschaft ist brutal aufgeräumte Natur, und auf der Gegenfahrbahn braut sich ein Stau zusammen, der einen ängstigen könnte. Lass dir Zeit, sage ich mir, es ist nicht mal zwei, bin viel zu früh. Heute Abend wird er sich wieder aufgelöst haben. Schlimmer noch als die Betonwände oder der Stau sind die wind- und formlosen Wolken, ist dieses endlos Diesige, in das ich hineinfahre und das das Blau des Himmels klammheimlich in ein helles Grau verwandelt. Obwohl der Tag sonnig angekündigt, komme ich in einen Hochnebel. Ein Nebel an so einem Tag, ein Nebel, der den Anschein erweckt, er wäre immer schon da gewesen. Ein Nebel, der nicht aus Wasserdampf besteht, sondern aus etwas anderem, in Köpfen Entstandenem. Nach einer Weile frage ich mich, wo diese Landschaft ihr Licht hernimmt.
Ich taste nach meinem Nacken, berühre die junge Narbe. Eine winzige Kruste aus einem geronnenen Tropfen Blut. Mehr brauchte es nicht. Das darunter kann ich nicht fühlen, aber es ist da. Ich bin verbunden.
Ich atme diesen Körper nicht ...
Die Implantation des Live-Senders ist ein harmloser Eingriff. Man sitzt auf einem Stuhl, ich sitze auf einem Stuhl, nein, ich sitze gar nicht, ich liege auf dem Bauch, ich schaue in ein Frotteehandtuch und lasse mir im Liegen den Nacken massieren, das ist die Arzthelferin. Und dann ein Stich, ein Spray, und mein Nacken löst sich in Nichts auf, während ich auf dem ergonomisch ausgeformten Polster ins Weiße schaue.
Ich habe mich überreden lassen, habe mich selbst überredet. Jetzt, wo Franka weg ist, gibt es niemanden mehr, der mir das Unsterblichsein ausreden könnte (aber ehrlich gesagt auch keinen echten Grund mehr, unsterblich zu sein). Ich liege auf Schaumstoff und spüre und sehe nichts und lasse mir den Chip einpflanzen, den ich nie haben wollte.
Diesen Körper atm' ich nicht!
Der Arzt ist mein Hausarzt, der öffnet eine kleine Pappschachtel im Design einer Medikamentenverpackung, holt ein durchsichtiges Plastikdöschen heraus und zeigt mir darin den Sender, einen winzigen, kaum fingernagelgroßen RFID-Chip, der auf dem Boden des Döschens fixiert ist; ebenfalls darin fixiert eine sterile Pinzette, mit der muss man den Chip abknipsen und in den Patienten einsetzen. Und von außen auf der Dose aufgeprägt ein soundsovielstelliger Code. Mein Arzt hat eine ganze Schublade voller Chippackungen. Das seien Pfennigartikel, sagt er.
An seinem kleinen Tischcomputer ist ein Scanner angebracht, gegen den hält er das Döschen und der Code meines Chips wird eingelesen. Eine Maske mit Eingabefeldern öffnet sich für Name, Geburtstag etc., er stellt das Döschen auf eine kleine Wärmeplatte, die versorge den Chip mit Energie, sagt er und wartet ein paar Sekunden. Und dann: »Verbunden!«
Er gibt meine Daten ein.
Ich bin Thomas Vanderra, 53 Jahre alt, Architekt, angestellt und ledig. Geburtstag und -ort, und die Vertragsnummer der Gesellschaft. Gesellschaft mit hochgestelltem 'R': Gesellschaft ®. Und ledig immer noch oder für immer.
Er zeigt mir an einem Kunststoff-Wirbelsäulen-Modell, wo der Chip hingepflanzt wird: mitten ins Genick; passgenau in die kleine Senke auf dem Dorn des zweiten Halswirbels, die wie dafür gemacht ist. Ein RFID-Chip ist ein kleiner Sender, erklärt er, der ohne Batterie auskomme, die Körperwärme reiche aus, um ihn in Betrieb zu halten. Ich bräuchte nur den Oberkörper freimachen und mich dort hinzulegen, der Eingriff dauere nur ein paar Minuten. Minimal-invasiv.
Ich atme diesen Körper nicht ...
Ich weiß das alles. Ich lese regelmäßig Artikel über die Reinkarnation. Menschheitstraum wahrgeworden, schreit es einem von animierten Werbescreens, aus 3-D-Fernsehspots und aus allen Winkeln des WWW entgegen. Wir müssen nicht mehr sterben! Und wenn man bedenkt, dass doch alles menschliche Denken und Handeln bislang den eigenen Tod impliziert hat, so wird sich diese Technologie, die noch ganz am Anfang ist, zur allergrößten Revolution des menschlichen Daseins überhaupt entwickeln. Wir bleiben! Zukünftig bleiben wir auf diesem Planeten, in diesem Universum, das Leben ist nicht länger nur ein Gastspiel, aufgetaucht aus und zurückgekehrt zu einem Jenseits, von dem niemand weiß, ob es sich dabei nicht bloß um den größten kollektiven Selbstbetrug handelt, dem die Menschheit über hunderttausend Jahre lang verfallen war. Gott ist tot, wir sind frei!
Frei? Frei, wer es sich leisten kann. Und der ist mitnichten frei. Statt einem Gott vertrauen wir unsere Seele zukünftig einem multinationalen Konzern an, der so übermächtig ist, dass er keinen anderen Eigennamen mehr braucht, als Gesellschaft. Niemand weiß, was tatsächlich mit uns geschieht, wenn wir so alt geworden sind, dass auch die beste Medizin unsere Körper nicht mehr am Leben halten kann. Das sei erst der Anfang, sagen sie. Jetzt, wo wir den schwierigsten, komplexesten und allerwichtigsten Teil von uns, nämlich unser Gehirn, sichern können, wird der Rest fast von ganz alleine geschehen. Genetik, Medizintechnik und Prothetik arbeiten unter Hochdruck an unseren zukünftigen Körpern, alles nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese dem Prozess des Zerfalls zu hundert Prozent entzogen werden können. Schon bald, heißt es, werden die Menschen neue Menschen sein, für immer jung, schön, gesund - und wenn doch etwas passiert, dann haben wir unser Backup, sicher eingelagert bei der Gesellschaft, die uns vertraglich zusichert, dass wir nicht verloren gehen. Schöne neue Welt.
Diesen Körper atm' ich nicht!
Und welchen Preis zahlen wir? Nichts weniger als die totale Kontrolle durch die Gesellschaft, über jeden Schritt, den wir tun. Ist das ein Traum? Oder ein Albtraum? Ein teurer Albtraum, der so viele Fragen ungeklärt lässt, zum Beispiel wer teilhat und wer nicht, und was bedeutet zukünftig Eigentum, wenn Unsterbliche immer reicher und mächtiger werden, und dies nie ein Ende haben wird? Und was ist mit den Kindern? Werden wir noch Kinder haben, wenn wir ihnen nichts mehr weitergeben brauchen und alles selbst behalten? Ist der Traum nicht ein Albtraum, der uns an den Fliegenfänger von Mächten hängt, die unser Leben irgendwann bis in alle Poren durchdringen werden, schlimmer als jede Kirche und jede Diktatur? Allein schon dieser Chip im Körper, der einer beinahe unbemerkten Unterwerfung gleichkommt, nein, ich werde das nicht tun. Kein Chip in meinen Körper. Ich bin dagegen, dass ich überall geortet werde, dagegen, dass ein Computer jederzeit weiß, wo ich bin. Auf wenige Quadratmeter genau. Sylvie und ich haben uns entschieden, es nicht zu tun.
Oder doch?
Ich atme diesen Körper nicht ...
Im Büro vor dem Rechner sitzen und statt zu arbeiten meine E-Mails lesen. Meine E-Mails sind Werbung und Mist, keine einzige von Franka und nur SPAM, ich soll mein Passwort ändern wegen der allgemeinen digitalen Bedrohung, NSA, Big Brother etc., und als wenn das was nützt angesichts der Gesellschaft, die noch viel mächtiger ist. Ich kann doch nicht alle Nase lang usw. usf. und beginne in einem anderen Fenster einen weiteren Artikel über die Unsterblichkeit zu lesen ... und stocke, zucke förmlich zusammen vor meinem Bildschirm - Sylvie?
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