Das Fräulein kommt zurück, ob ich denn angemeldet wäre, normalerweise wüsste sie das, ich zeige ihr die Karte, die man mir zugeschickt hat, ja die wäre von der Kollegin wohl, die wäre aber nicht da, oder nicht mehr da, es wäre ja gleich vier.
Wir gehen eine enge Treppe hinauf, ich und das Fräulein hintereinander, freundlich ist sie ja, doch ohne echte Hoffnung auf gewisse Dinge, die wir unbemerkt in den schlecht beleuchteten engen Gängen zwischen den noch schlechter beleuchteten und noch engeren Büros tun könnten, hinter überladenen Schreibtischen, Kopierern oder Aktenschränken.
Wir betreten ein Zimmer voller Zimmerdamen, von denen eine mich übernimmt, mich beim Namen nennt, meine Karte kopiert. Ich unterschreibe etwas, Stempel, dann Rückübergabe an mein Fräulein. Das telefoniert, es geht um mich, man begreift endlich, dass ich gänzlich falsch bin, ich müsse zum Institut, »ich dachte, das wäre hier ...«, sage ich, freundliches Lächeln, »ja schon, aber nicht dasselbe«, es komme selten vor, dass sich wer hierhin verirrt, der Publikumsverkehr, der wäre am anderen Ende vom Gelände, das Hirnbegleitschreiben bekäme ich dort ausgedruckt, erst mit dem könne ich zum Scannen.
»Waren Sie denn noch nie dort?«
Ich verneine, beim Institut?
»Beim Institut«, sie erklärt, dass ich in der Materialverwaltung gelandet sei, wie ich das nur geschafft habe, nicht da, wo man normalerweise hinkäme, und sie schlägt mir eine Abkürzung vor, wie ich fahren soll, durchs alte Werksgelände, über die Brücke, gegen die Einbahnstraße, niemanden umfahren, sie lacht, vor den Gleisen rechts, da wäre es, ich könne auch zurückkommen, nochmals fragen ...
Ihre unverklärten Augen, auf meine Hand, dann auf meinen Mund gerichtet, auf mein Innerstes, auf etwas von mir, das schon ausreichen täte, sie oder etwas von ihr zu befriedigen. Ihre Augen schließen sich wie für immer, als sie mich verabschiedet.
Ich fahre also gegen die Einbahnstraße durch ein mächtiges, kameraüberwachtes, aber offen stehendes Rolltor ins Werksgelände, eine ehemalige Eisengießerei, deren Überreste die Gesellschaft aufgekauft hat. Überall Container unterschiedlichster Größe, alle voll klimatisiert, die meisten stehen gestapelt in offenen, verrußten, in die Jahre gekommenen Ziegelhallen, und ich ahne, dass das alles Datenspeicher sind. Dass in diesen Containern die Seelen der Unsterblichen lagern.
Ich verfahre mich erneut. Ich bin das erste Mal hier, ich habe das alles noch vor mir, noch keiner der Container hier enthält ein Bewusstsein von Thomas Vanderra. Wie aber kann es sein, dass sich ein Wildfremder in einer so sensiblen Anlage frei bewegen darf? Wird das Fräulein Ärger bekommen. Oder träume ich?
Verirre ich mich, weil das alles hier nicht real ist?
Ich erinnere mich, einen Arbeiter entdeckt und ihn nach dem Weg gefragt zu haben. Daran erinnere ich mich.
Ich fahre weiter, werde von einem Security-Mann aufgegriffen, der mich zur Ausfahrt schickt, zu irgendeiner Ausfahrt, die keine hundert Meter entfernt plötzlich auftaucht, und ein Pförtner, und noch einer, man ist unschlüssig, was will der (ich) hier?, man lässt mich raus, und schon bin ich wieder in der Normalrealität, Landstraße mit gelben Schildern.
Ich gebe Gas, jetzt wird es aber Zeit, irgendwo muss doch mein Ziel sein!? Ich frage mich, wie es angehen kann, dass die Gesellschaft jederzeit weiß, wo ich bin, ich aber nicht, wo die Gesellschaft ist?
Weil Reinkarnation nur in einer Welt funktioniert, in der der Tod nicht mehr unbemerkt geschehen kann, antworte ich mir. Und: Du hast es so gewollt!
Schließlich finde ich tatsächlich Hinweisschilder, so überdimensioniert groß, dass ich nicht begreife, wieso ich die übersehen habe, und dann das Institut: eine mittlere architektonische Katastrophe aus Stahl und Glas am anderen Ende des namenlosen oder namenvergessenen Gewerbegebiets hinter der namenlosen Stadt, umgeben von Blechfassadenschachteln und winzigen Zierkoniferen, und, ach ja, da sind also die Parkplätze. Als ich die Autotür zuwerfe, sehe ich paar Straßen weiter, im Dunst fensterloser Hallen, den Erotik-Markt-Pylon. Ich bin im Kreis gefahren.
Das futuristische Foyer des Instituts ist aus Glas und gefüllt mit Menschen, tropischen Gewächsen und einer subtilen, uns tragenden Musik. Wir könnten auch alle nackt herumlaufen, so warm ist das mitten im Winter, und wir sind ganz schön viele, die wir heute gescannt werden, ich fühle mich wie zurückgekehrt und weiß aber nicht wohin. Der Garten der Unsterblichen, die ganz normale Wie-du-und-Ichs sind, sogar Familien mit Kindern, die sich hier zum Scannen treffen und in der Betriebsamkeit eines Flughafens darauf warten, aufgerufen zu werden. Es gibt mehrere Anmeldecounter, ich gebe an einem meine Karte ab, bekomme den Hirnbegleitschein ausgedruckt, denke an das Fräulein zurück und wieder assoziiere ich 'Sylvie', das Fräulein hatte ausgesehen wie sie, aha, denke ich, wer ist Sylvie?, frage ich mich, was gaukelt mir mein Kopf da vor, ich kenne keine Sylvie und vielleicht bin ich auch nie diesem Fräulein begegnet, es ist, als wäre das alles gar nicht passiert, die ganze Irrfahrt bis hierher, kann das sein?
Ich schaue in die Höhe, weit oben eine gläserne Kuppel, und zwischen Palmwedeln und Schlingpflanzen hängen riesige Flachbildschirme, wie frei schwebend, die zeigen Kurzfilme und Werbung, und überall Holzbänke, Liegen und etwas zu trinken. Aber ich bin auf Termin hier, alle sind wir auf Termin hier, niemand muss wirklich lange warten, alles bestens organisiert, die Geschäfte mit dem Ego-Scan gehen gut, und gleich komme ich in die Röhre.
Die Röhre, die gar keine Röhre ist, die sich auf einen seltsamen Helm beschränkt, wie eine Krone, die dir eine NTA aufsetzt, was Neurologisch-Technische Assistentin heißt, eine nach innen gestülpte Krone, deren Zacken sich durchs Haar bohren bis auf die Kopfhaut, in die sie vorher ein kühlendes Gel einmassiert hat.
Noch vorher hat dir ein Fließbanddoktor - weil du das erste Mal hier bist - ganz automatisch auch eine kleine Menge Hirngewebe entnommen, so routiniert, dass es nicht einmal beim Denken gestört hat. Ein winziger Bohrer hat sich, während er noch mit dir sprach, unbemerkt durch deine lokal anästhesierte Schädelplatte geschraubt, ist eingedrungen bis ins Hirn, aus dem eine durch diesen Bohrer geführte nanometerdünne Sonde ein paar Zellen absaugte. Und du hast nichts davon gespürt und hätte er dich nicht darauf hingewiesen, du würdest gar nicht wissen, dass sie aus diesem entnommenen Gewebe neuronale Stammzellen extrahieren werden, die man mit manipulierten Viren impft, sogenannten 'Adenoviren', die das Nervenzellenwachstum anregen, mithilfe eines Hormons, das man wiederum aus einem Pilz gewinnt und das das Wachstum von Dendriten und Axonen antreiben soll, jenen Verbindungsstraßen, die das Denken ermöglichen, sodass fortan auf der Körperseite (und nicht Geistseite, aber was ist schon Geist?) irgendwo unter den idealen Bedingungen eines medizinischen Labors - oder vielmehr einer riesigen, für Millionen Gehirne ausgelegten Neuronenbank - für dich nun ein persönlicher Zellpool gezüchtet und eingelagert wird, dauerhaft am Leben gehalten in einer temperierten und sauerstoffversorgten Nährlösung, und fortan diese Biomasse der Grundstock für dein potenzielles Ersatzgehirn sein wird. Neuronale Stammzellen, die, falls man ein (dein!) abgestorbenes Gehirn wiederbeleben muss, als injiziertes Start-up für eine Neubesiedelung deiner Hirnrinde sorgen werden, Neubesiedelung oder auch
Invasion.
Der Raum, in dem sie dir den Helm aufsetzt, ist eine Art Verhörzimmer, aber nicht beklemmend, sondern eher angenehm, schlicht und schön, mit Holzfußboden, ein bisschen Kunst, unaufdringlich oder zurückhaltend, Stimulanz fürs Unbewusste, es ist ein schlichter, fast leerer Raum, dunkel (sind die Wände dunkel? Oder nur nicht beleuchtet?), und neben der Kunst ein Stuhl, Holz, und ein Tisch, auch Holz, darauf ein paar Blätter weißes Papier, und Stifte, und davor an der Wand ein Bildschirm. Und eine Musik (die ich mir vorher habe aussuchen dürfen), Klänge aus unsichtbaren Boxen, gute Klänge, guter Klang, obwohl ich kein Mozartfan bin, habe ich mir Mozart ausgesucht, das erste Krönungskonzert (ausgerechnet), auf einem Spinett gespielt, dazu ein angenehm sandelholziger Duft, das ganze Programm körperferner Sinnlichkeit, nichts was dir nahe geht, aber umso angenehmer in seiner Berührung, und, ach ja, einen Kaffee bekomme ich, auf dem Tisch in einer weißen Porzellanschale mit Milchschaum, ein sehr guter Kaffee, du bist perfekt für ein perfektes Backup.
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