1 ...6 7 8 10 11 12 ...34 Doch was mit dir geschehen ist, ist als Fall nicht vorgesehen. Du zermarterst dir dieses fremde Gehirn, das man zu einem Ebenbild des deinen umgeformt hat, aber du weißt viel zu wenig über die medizinischen Grundlagen, um die Verwechslung zu verstehen. Du hast keine Ahnung, ob man versehentlich Leon mit deinen eigenen, mit Thomas Vanderras Stammzellen geimpft hat, oder ob man Leon lediglich mit deinem virtuellen Backup rekonfiguriert hat? Du hast keine Ahnung, was geschieht, wenn sich manipulierte Stammzellen ein fremdes Gehirn aneignen, und einen ganzen Körper dazu, und erst recht kannst du dir nicht im Geringsten vorstellen, wie VOLLSTÄNDIG eigentlich Thomas Vanderra in Leons leeres Haus eingezogen ist. Oder auch: Wie leer ist es darin eigentlich? Du ahnst, dass das, was hier geschieht, nichts, rein gar nichts mehr mit dir zu tun hat, außer - außer duselbst. Dieses vollkommen fremde Gehirn eines gewissen Leon Petrović erfindet sich plötzlich Erinnerungen an Thomas Vanderra, und zwar so, dass es auf einmal glaubt, 53 Jahre lang er gewesen zu sein, Thomas Vanderra, der duselbst 53 Jahre lang gewesen bist. Oder auch nur gewesen zu sein glaubst. Denn duselbst bist nichts anderes als dieses fremde Gehirn, Punkt.
Irgendwann erscheint die Ärztin mit dem Mausgesicht wieder. Sie spricht mit dem Mann. Stellt Fragen, auf die er nicht antwortet, auf die du nicht antwortest, du bleibst in deiner Höhle und lässt die Fragen vorüberziehen, und sie bleibt unbefriedigt. Als sie ihre Hand auf die Bettdecke legt, um dich aufzumuntern, will sie sich eigentlich nur selbst beruhigen. Immer wieder schaut sie über dich hinweg, dahin, wohin du nicht schauen kannst, zu der Maschine, die längst hätte abgeschaltet sein müssen.
»Nachher möchte Ihre Frau wiederkommen«, sagt sie.
Der Mund, in dem du dich befindest, öffnet sich, Wangenwände schieben sich zusammen und das Wurmkrokodil spannt sich an. Aus der Höhle hinter dem Zäpfchen kommt ein Raunen: »Sylvie ...«, krächzt Leon.
Das macht die Ärztin lächeln.
Du spielst mit. Ein sechster Sinn, der nicht Leons Sinn ist, warnt dich davor, dein Versteck zu verlassen und dich zu zeigen. Du ahnst, dass das, was dir geschieht, auf eine im wahrsten Sinne des Wortes seelenlose Art geschieht, dass du keine Seele hast, dass du tatsächlich gar nicht existierst, nicht originär existierst, nur sozusagen sekundär, zweit- oder nachrangig. Was bedeutet: jederzeit rückgängig zu machen.
Rückgängig.
Noch während Mausgesicht dich ansieht, prüfend, durchschauend, begreifst du, dass sie dich niemals wirklich durchschauen darf! Schlimmer noch als die Option, für immer hier drin gefangen zu sein wie ein Aladin'scher Flaschengeist, ist die Alternative dazu. Die fehlende Alternative. Nämlich nichts anderes zu haben als diese Flasche - bzw. nichts anderes zu SEIN. Du BIST diese Flasche, man könnte dich gar nicht herauslassen, aus dem Gefäß namens Leon, selbst wenn man wollte. Man könnte dich gar nicht rückübertragen ins digitale Speichermedium, nicht einfach zurück in den Körper, aus dem du gekommen bist - den du dir einbildest, früher einmal besessen zu haben oder vielmehr gewesen zu sein. Was bedeutet, dass man niemals feststellen darf, dass du FALSCH bist. Illegal. Blinder Passagier, Schwarzarbeiter, schlimmer: Kidnapper! Und dass der Geist von Thomas Vanderra, der sich unberechtigterweise des Körpers von Leon Petrović bemächtigt hat, überhaupt kein Geist ist. Kein Geist, du bist kein Geist, sondern nur das diesem Körper aufgezwungene seelenlose morphocerebrale Abbild eines fremden Gehirns. Was man eigentlich korrigieren müsste. Restart. Reload. Neu formatieren. Was nicht anderes ist, als die Auslöschung des Einzigen, was dich als dich ausmacht: die in dieses Gehirn hineinsimulierte Thomas-Vanderra-Erinnerung.
Die nächste Frage der Ärztin bleibt wie alle anderen unbeantwortet. Dann verlässt sie dich.
Du verlässt dich.
Ich habe mich längst verlassen, Thomas habe ich verlassen und mich in Feindesland wiedergefunden, ich will fliehen, aber ich kann nicht fliehen, ich kann mich nur eingraben, immer tiefer und tiefer vergrabe ich mich in diesem Körper wie in einem Schützengraben, durch dessen heißen, dampfenden Hohlräume Erregungswellen beben, die ich als meine eigene Angst identifiziere, vermischt mit der Angst eines Umzingelten, die aus seinen ausgetrockneten Speicheldrüsen strömt. Wie schmeckt der trockene Mund eines Fremden? Gefallener Kamerad auf dem Schlachtfeld, in dem ich festklemme und langsam verzweifel. Nein, ich bin kein Kamerad, bin nur ein Virus, ein Parasit, der das weder wollte, noch etwas dafür kann, der jedoch einen genauso bedingungslosen Überlebenswillen hat, wie dieser Untote, ich muss muss muss mich damit abfinden, muss es akzeptieren, ertragen, es mittragen, ich habe keine andere Wahl, als Leon zu infizieren und ihn mir zu eigen zu machen!
Ich spüre, wie sich seine Blase entleert.
Wer auch immer Leon ist oder war, du musst zu ihm werden, er sein, als wärst du er schon immer gewesen. Und es scheint ja fast einfach! Weil du keine Idee von ihm hast, keine wirkliche Vorstellung, kein echtes Bild, und weil du ans Bett gefesselt bist und deine Sinneseindrücke sich auf ein enges Blickfeld und fremde Stimmen beschränken, gelingt es dir irgendwie sogar daran zu glauben. Als wäre das nur ein Spiel, bei dem du gar wieder gesund werden könntest. In der Stille des Krankenzimmers, in der Dämmerung des Tages, in diesem diffusen Zustand fehlender Wahrnehmungen besteht ja weiterhin noch die Möglichkeit, dies alles könne vorübergehen, eine Irritation aufgrund von Krankheit, Unfall oder sonst was. Solange Leon unbegreiflich bleibt, glaubst du fast, es wäre leicht, in diese Rolle zu schlüpfen, wie ein Geheimagent, oder ein Schauspieler, ein Spiegelbild fremder Erwartungen zu sein, welches du nur gut genug kontrollieren und steuern musst. Du spielst das Spiegelspiel Leon.
Wo ist eigentlich Thomas? Der echte Thomas ... ('der echte ...', dieses Wort, mir wird schlecht darüber).
Ein Blick in einen echten Spiegel macht aus dem Spiel jedoch endgültig jenen befürchteten Albtraum, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.
Bisher wusstest du nicht, wie er aussieht. Wie du aussiehst. Dein Bild von dir oder ihm ist ein Thomas mit Deformationen. Ein kranker Thomas, aber immer noch ein Thomas. Auch wenn alle Eigenwahrnehmungen anders sind als früher, so ist das Ganze doch immer noch dasselbe. Irgendwie. Denn bisher hat dir niemand einen Spiegel vorgehalten, oder auch nur ein Foto von dir gezeigt. Zu sehr war man mit der Routine des nackten Überlebens beschäftigt, zu sehr damit zufrieden, dass du überhaupt neurologisch korrekt reagierst, sogar sprichst und interagierst. Technik und Personal haben dem unfalltoten Leon Petrović mit Kabeln, Schläuchen und insbesondere dieser unheimlichen Apparatur am Kopf täglich mehr Leben eingetrieben, und niemand ist dabei auf die Idee gekommen, dass dieser Leon Petrović sich selbst noch nie im Leben gesehen hat.
Am Nachmittag nehmen sie dir die Handfesseln und die feuchten Windeln ab, und du verlierst das Gefühl, in Leons Mund einen Platz zu haben. Als sie deinen tauben Unterleib auf eine Pfanne heben, flatterst du auf wie ein aufgescheuchter Vogel, verlässt die Mundhöhle wie einen aufgesprungenen Käfig, aber ihn, ihn verlässt du nicht. Und dann zwingen sie dich, vor ihren Augen mit diesem Körper Stuhlgang zu haben, dessen Reste sie mit Plastikhandschuhen aus dem Fremdarsch entfernen, du schreist und schimpfst wie ein wütender Spatz, ohne aber auch nur einen Laut von dir zu geben.
Und anschließend stellt man dir deinen Sohn vor, den du von nun an hast, neben der Frau, die du von nun an hast und die du frech mit »Sylvie!« begrüßt und sie damit zum Weinen bringst. Sylvie, deine vor deinen Brillengläsern flackernde neue Frau. Und der schlaksige Junge, vielleicht 13 oder 14, an den erinnerst du dich, der war schon einmal hier, ein Jugendlicher, der nichts sagt, aber in dessen Gesicht du es arbeiten siehst.
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