Die Hände fallen über dir zusammen wie ein Turm.
Böser Traum?
Beim nächsten Erwachen öffnest du statt der Augen die Lippen. Du hast dich in die Mundhöhle zurückgezogen und beobachtest von dort heraus einen Pfleger und eine Schwester, die an dem, der dich umschließt, herummachen. Du siehst zu, wie sie den undefinierbaren Sud für die Magensonde wechseln, die in Leons Nase steckt. Und du kannst den Plastikschlauch, der hinter Zunge und Zäpfchen in diesen Körper hineinführt, förmlich sehen.
Als sie fertig sind, schauen die beiden dich an, dich bzw. irgendetwas, das sich außerhalb des Mundes befindet. Du bleibst versteckt unter der Oberfläche, von dem du nicht einmal wissen willst, wie sie eigentlich aussieht. Wie du aussiehst. Dein neues Gesicht, dessen fremde Formen du - als sie gegangen sind - dann doch heimlich mit den ebenso fremden Fingern abtastest. Was sich taub anfühlt, zahnarzttaub, eingeschlafen taub, und weil die Arme immer noch angebunden sind, kommst du nur bis zu den Augenbrauen und nicht weiter, nicht bis zur Stirn, von der du nur ahnst, dass sie jetzt hoch ist. Die Augenbrauen sind viel feiner, als die buschigen, die ich früher hatte. Mädchenbrauen. Ich will's gar nicht wissen.
Du bleibst in der Mundhöhle. Von wo aus du Leute beobachtest, die immer wieder kommen und an dem Mann Dinge auswechseln, auch untenrum, wo alles weit weg und taub ist, du vermutest, dass der Mann Windeln tragen muss, ganz sicher muss er, auch wenn du dich nicht erinnern kannst, je geschissen zu haben. Oder wie sie dich ansprechen. Du hockst in der Höhle, hinter der Zunge, einem Krokodil von Zunge, das sich nicht rührt, während du zwischen spitzen Zähnen hindurchschaust wie ein verängstigter Höhlenmensch.
Irgendwann erscheint Frau Doktor Mausgesicht, zusammen mit anderen Männern und Frauen, alle in Kitteln, mit Klemmbrettern im Arm und Stethoskopen um den Hals, aber das mit den Klemmbrettern und Stethoskopen erfindest du dir hinzu, du kannst sie ja kaum sehen mit dem nur haarbreit geöffneten Mund, und sie reden in ihrer Fachsprache über den, in dem du hockst, und über die Maschine, an der er angeschlossen ist, an der sein Kopf angeschlossen ist, und eine ältere Ärztin fragt nach dem Reinkarnator, und wieso der noch impulsiere? Sie redet so, als schliefest du oder lägest im Koma, oder wärst ungebildet genug, um kein Wort zu verstehen, du verstehst auch tatsächlich kaum etwas, aber du verstehst, dass diese Maschine deinen Kopf mit wohldosierten Stromstößen intakt hält, als könntest du nicht selber denken, oder noch nicht, denn eigentlich hätte diese Maschine, eben dieser Reinkarnator, was ein besonders komplizierter Hirnschrittmacher zu sein scheint, eigentlich hätte dieser doch längst heruntergefahren sein müssen, und dass man nur in Ausnahmefällen den Patienten im Wachzustand noch impulsieren müsse, und sie diskutieren darüber, dass dein Gehirn sich nicht so günstig entwickelt habe, wie erwartet, ja was haben sie denn erwartet? Was?!
Vielleicht ist genau das geschehen. Ich bin erloschen, mit Haut und Haar, und man hat mich in einen fremden Körper hineininkarniert. Einen Spenderkörper. Organspende, Körperspende, warum nicht? Weil das absurd ist, Thomas! Wer sollte seinen Körper in Gänze spenden? Ja, wer das Geld nicht hat für das eigene Backup ... Ach Thomas, wer arm ist, soll sich den Reichen freiwillig schenken? Und wenn man die Armen dafür bezahlt? Davon hast du nie gehört. Und wenn es so wäre, warum verwechselt man dich dann? Alle sind sie davon überzeugt, dass du Leon heißt. Leon. Leon Petrović!
Nein!
Ich bin Thomas. Thomas Vanderra. Der dafür bezahlt hat, dass man ihm ein neues Hirn züchtet, wenn er stirbt. Das ist es doch, darum geht es doch beim Backup. Aber was ist mit diesem hier? Mit dem ich hier denke? Über mir, dort, hinter dem Gaumenknochen? Wessen Hirn steckt in diesem Körper? Meins? Thomas'? Leons? Ich denke an absurde Geschichten von vertauschten Köpfen bei Hund und Katze. It's hirning cats 'n' dogs. Ich träume. Muss.
Als sie gegangen sind, legst du dich neben Zunge Krokodil und schläfst, um diesen entlaufenen Traum wieder einzufangen. Aber du findest ihn nicht, keinen Traum, keinen, an den du dich anschließend erinnerst. Nur an das glucksende Baden in fremdem Speichel, Höhlenklänge, sogar die Echos widerhallender Tropfen glaubst du im Schlaf aus der Tiefe des toten Tieres gehört zu haben. Warum träumt man nicht mehr, nach der Reinkarnation? Weil das, was du im Wachen erlebst, selbst
ein Traum ist?
Am nächsten Morgen ziehen sie Leon die Sonde aus der Nase. Du nimmst es zuerst kaum wahr, öffnest nur den Mund ein wenig, gerade so, dass du Finger in Gummihandschuhen sehen kannst, die an einem rot verschmierten Kathederschlauch ziehen, und in dir oder hinter dir, im Rachen, da spürst du ein glitschiges Ziehen, und plötzlich stehst du knietief im Blut. Schwarzes Blut, das sich, aus der Kehle kommend, zwischen maroden Zähnen sammelt. Und das von außen über die schmalen Lippen rinnt, sich in den Mundwinkeln sammelt und ebenfalls hineintropft. In dich. In ihn. Du watest durch eine Mischung aus Blut und Speichel nach vorne, zum Licht, lugst durch die schießschartenschmalen Lücken zwischen den Zähnen und erkennst den Pfleger, einen schweren, bärtigen, korpulenten Riesen mit einem Bärchengesicht, der draußen ein Gesicht abtupft.
»Alles in Ordnung?«, brummt der Bär mit einer elektrisch verzerrten Bärenstimme und schaut dich an. Du schreckst zurück, verkriechst dich nach hinten, willst dich unter der Zunge verstecken, aber da ist überall das Blut.
Dann eine impulsive Kontraktion, Zunge Krokodil krümmt sich unter dir, presst dich unter den Gaumen, du hörst ein Geräusch wie von einer Klospülung und dann ist das Blut weg. Hinuntergeschluckt. Ich habe geschluckt. Ich.
Das passiert nochmals und nochmals, dann ist es vorbei. Ich bin noch da. Ganz klein, ganz tief hinten am Abgrund der Kehle, klammer mich wie ein Insekt ins Zäpfchenfleisch, nur noch ein Funken meiner selbst. Aber ich bin.
Jemand bringt etwas, etwas Porzellanenes, aus dem es dampft und nach Kantine riecht. Kartoffelgeruch und Buttergeruch. Pürierte Schonkost, die der Pfleger dir löffelweise hineinschiebt. Dazu zwängt er das Mundloch auseinander, indem er mit der freien Hand die Kiefergelenke zusammendrückt. Du aber klebst noch immer am Gaumen wie ein vergessenes Stück Brotrinde und beobachtest den Löffel, auf dem ein undefinierbarer Brei klebt. Beim Hinausziehen bleibt der größte Teil davon an den Lippen hängen, die der Pfleger mit routiniertem Griff zusammenhält. Der Brei schwappt zurück, umspült dich, und du meinst, darin zu ertrinken, zu ersticken, und wenn das Krokodil sich hebt und senkt, um den Rachen zum Schlucken zu animieren, dann fürchtest du, doch noch hinuntergeschluckt zu werden, gleich gänzlich verloren zu gehen und diesen Körper endgültig seiner bewusstlosen Stumpfheit zu überlassen. Nur mit größter Kraft gelingt es dir, oben zu bleiben, dich an den Zähnen festzuhalten, Löffel um Löffel, bis der Pfleger genug hat.
Im Dunkeln wartest du, lauschst den Aufräumgeräuschen, hörst Klappern, Klirren, Schritte und die Selbstgespräche führende Bärenstimme. Erst, als er gegangen ist, wagst du, wieder hinauszuschauen. Den Mund zu öffnen und zu schauen. In der heißen, feuchten Luft deines Atems auf dem glatten, nassen Krokodil zu liegen und zu schauen. In der Atemluft, die faulig riecht, aber das bildest du dir nur ein. Du riechst dich nicht. Du kannst dich gar nicht riechen, selbst den Geschmack des Breis hat dieser Körper nicht wahrnehmen können.
Hinausschauen und den Tag vorbeiziehen lassen. Und sich fragen, ob man hier je wieder hinauskommt. Der Trend zum Zweithirn, lachst du, und dir fällt ein, wie sie dir Hirnzellen entnommen haben. Für den Fall, dass.
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