Zwischen Schuppen, Flaschencontainern und einem Traktor stand ein Tisch mit Stühlen. Nach hinten wurde der Hof von einem überwucherten, steil ansteigenden Hang begrenzt, in der Ferne waren die Moselhänge zu sehen. Harald streckte seinen Zeigefinger zu einem ungewissen, weit entfernten Ort aus: «Da — man kann meine Lage von hier aus sehen.»
Wieder ertönte Kindergeschrei, vermischt mit Befehlen einer Frau, die nicht zu sehen war. «Edda, meine Frau.» Wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht. «Edda! Edda!», rief er.
Sie kam mit langen, schweren Schritten über den Hof, als würde sie durch Schnee stapfen. Edda hielt ihren Kopf gesenkt, als wüsste sie nicht, dass Besuch gekommen war. Doch dann drückte sie Christine mit einem herzlichen Blick die Hand. Eine hübsche, schlanke Frau mit halblangem, dunklem Haar, die Christine sich gut in einer Hamburger Redaktion oder in einem Szenelokal hätte vorstellen können. Doch es lag ein verdrossener Zug auf ihrem Gesicht, und ihre Kleidung wirkte vernachlässigt.
«Christine, eine alte Bekannte von mir», stellte Harald sie vor. «Ich habe dir von ihr erzählt.»
«Guten Tag, herzlich willkommen», sagte Edda. «Machen Sie es sich doch bequem. Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.» Sie wies in die Richtung, aus der sie gekommen war, und machte eine vage Kreisbewegung mit dem Zeigefinger, um zu bedeuten, dass sie dort etwas zu tun hatte. Harald Lod sah seiner Frau nach, bis sie erneut den gesamten Hofplatz überquert hatte.
«Kommst du mit in die Küche?», fragte er Christine.
In der Diele des Hauses roch es muffig, und die Tapete erweckte den Anschein, als ob bereits mehrere Generationen von Bewohnern mit ihr gelebt hatten. Kisten, Werkzeuge und dreckige Stiefel lagen herum. Auf dem Küchentisch stand ein Laptop, daneben stapelten sich Zeitungen und ausgedruckte Texte. Es roch nach Kartoffeln und Grünzeug. Christine hatte nicht den Eindruck, dass hier aufwändige Gerichte zubereitet wurden. Als Harald den Kühlschrank öffnete, wirkte dieser sauber, aufgeräumt und fast leer. Er holte eine Schüssel mit einer quarkartigen Masse heraus. «Hier in der Küche kann ich am besten den Schreibkram erledigen.»
Christine spürte wieder ihre Füße und ihre Knie. Sie griff automatisch nach einem Stuhl und setzte sich. «Dir geht es gut?», fragte sie.
Harald stellte die Schüssel hin und setzte sich ebenfalls. «Na ja. Eher nicht.»
«Verkaufst du zu wenig?»
Er lachte auf. «Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, an wen ich verkaufe!»
«Ich verstehe nicht.»
«Na ja, der Gastwirt um die Ecke würde gerne ein paar Flaschen von mir anbieten, wenn ich ihm einen Rabatt von 40 Prozent gebe. Ich könnte auch einen Discounter anschreiben und bitten, mir die Weine unter Selbstkostenpreis abzunehmen.» Er sprach mit gedämpfter Stimme, als wollte er niemanden aufwecken. «Die Arbeit in den Steillagen, wenn man sie richtig macht, müsste allein wegen des körperlichen Aufwands erheblich mehr Geld einbringen. Wenn ich dann an die Qualität meiner Weine und die von einigen anderen denke und dazuzähle, dass nur durch unseren Einsatz die Kulturlandschaft der Mosel gerettet werden kann, komme ich zu astronomischen Preisen. Gerechtfertigte Preise, nicht künstlich hochgeschraubte wie im Bordelais. Aber ich will sie gar nicht. Ich will, dass die Leute bezahlbare Weine trinken können. Das Einzige, worum ich bitte, ist, dass ich und meine Familie von unserer Arbeit leben können.»
«Andere schaffen es doch, zu überleben», sagte Christine. «Manche sogar sehr gut.»
Er stand wieder auf.
«Weil sie gut im Marketing sind. Reden schwingen beherrschen einige Moselwinzer anscheinend am besten. Und wenn man dann die entsprechenden Kontakte hat ...»
«Du bist doch vom Fach, ausgerechnet dir fällt PR schwer?»
«Das habe ich nicht gesagt.» Harald holte einen Brotlaib aus einem Schrank und schnitt Scheiben ab. «Aber ich habe nicht den Beruf gewechselt, um Worte zu drechseln oder Zirkusveranstaltungen durchzuführen.»
Christine konnte sich ausmalen, dass Haralds Hang, es bloß niemandem recht machen zu wollen, seine Geschäfte erschwerte.
«Machen die Gordon-Schwestern auch nur Marketing?» Die Zwillinge gehörten zu den Winzern, die Haralds Probleme nicht hatten. Gesine Myersberger hatte Christine kürzlich sogar gefragt, warum sie denn noch keinen Bericht über die beiden gebracht hätte.
«Die Gordons sind nicht die Schlimmsten.» Harald säbelte sorgfältig und langsam an dem Brot herum. Drei Scheiben hatte er bislang geschafft.
«Ich glaube sogar, dass sie den Terroir-Begriff verstanden haben. Einen Weinberg lieben, seine Natur, die Tiere, die auf ihm leben, und die Sonne, die ihn bescheint. Begreifen, wie der Berg wurde, was er ist: durch einfühlsame Menschenhände, durch den Respekt vor der Natur und das Herauslocken ihrer Möglichkeiten. In Jahren, in Jahrhunderten. Dieses Werk fortführen und im Keller, im Fass, in der Flasche einen Wein hervorbringen, der all das in sich trägt. Im Glas dieses Kunstwerk schmecken, an dem Mensch und Natur über Generationen gearbeitet haben und immer weiterarbeiten. Die Gordons sind noch weit entfernt davon, einen solchen Wein in die Flasche zu bringen. Immerhin, die Idee, die haben sie so ungefähr verstanden. Und damit haben sie den meisten meiner Kollegen einiges voraus.»
Der Hund bellte wieder. Harald sprang auf und blickte aus dem Küchenfenster. Ein blauer Kombi fuhr auf den Hof. Edda rief den Hund zurück. Aus dem Wagen stieg ein Ehepaar, etwa Mitte fünfzig. Er mit grauer Ponyfrisur, Jeans und Sweatshirt, sie mit Kurzhaarschnitt, halblanger Hose und bunter Bluse.
«Entschuldige», sagte Harald und lief aus der Küche. Kurz darauf konnte Christine beobachten, wie er mit lebhaften Gesten und gutgelaunter Miene auf die beiden einredete. Es schienen wichtige Leute zu sein. Plötzlich liefen Harald und seine Frau hektisch aus Christines Blickfeld. Das Paar stand eine Weile unschlüssig da, dann aber lächelten sie wie befreit. Harald und Edda begannen, Stühle, Weinflaschen und Gläser heranzutragen. Harald verschwand im Haus und stand kurz darauf wieder vor Christine in der Küche.
«Sorry. Kundschaft. Komm doch mit raus!» Er nahm das Tablett mit dem Brot in die eine Hand, die Quarkschüssel in die andere und verschwand wieder.
Das Paar nahm am Tisch Platz, und auch Harald und seine Frau setzten sich. Edda stand mehrmals wieder auf, und Christine beobachtete, wie sie zu ihren Kindern lief, die jetzt im Innenhof spielten. Zwei Söhne im Vorschulalter. Christine ging hinaus.
Am Tisch wurde Wein eingeschenkt. Harald hatte verschiedene Sorten nebeneinander aufgereiht und sagte: «Sehen Sie sich die Etiketten auf den Flaschen ganz genau an.» Pflichteifrig schob das Paar die Köpfe vor und zog sie wieder zurück, als Christine eintraf. Beide nickten ihr zu, sichtlich erleichtert darüber, dass sie nicht allein mit den Winzern probieren mussten.
Harald füllte auch für Christine ein Glas zu einem Viertel. «Also» — er streckte den Zeigefinger aus —, «wie Sie sehen, ist es ein Kabinett.» Er nahm sein eigenes Glas und hielt es an die Nase. Christine und das Paar taten es ihm gleich. Haralds Frau hatte ihren Stuhl etwas vom Tisch weggerückt und befand sich in einem rufenden Austausch mit ihren Kindern.
«Der Kabinett ist ein Wein, der in Deutschland große Tradition hat. Gehaltvoller als ein einfacher Qualitätswein, besitzt er doch etwas Spielerisches und hält sich gern in einer Sphäre zwischen Himmel und Erde auf. Er muss sich nicht entscheiden, zu welchem Element er wirklich gehört. Vielleicht ist er auch ein Tänzer, der von der einen zur anderen Schönheit wechselt, aber jede ehrlich bewundert.»
Gedämpftes Gelächter ertönte. Sollte das ein kleiner Lehrgang werden?, fragte sich Christine. Oder worauf wollte Harald hinaus?
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