Die Tür klickte geräuschlos ins Schloss. Aaron war so lautlos wie er gekommen war wieder verschwunden.
Die Menschen sind verschieden, dachte Schrimp. Manche jammern den ganzen Tag, andere schämen sich für ihr Leid. Es war nicht so, dass er Aaron nicht mochte. Er mochte ihn sogar mehr als manch anderen Kollegen. Das lag an der Musik. Er spürte die Wirkung von Musik auf seine Schüler. Wer musizierte, konnte sich besser auf andere einstellen, war sozialer, weniger aggressiv. Musik schien auch ein guter Lernmotor zu sein. Schüler, die ein Instrument spielten, konzentrierten sich im Unterricht besser. Und Aaron hatte einen großen Anteil an der Musikalität der Schüler dieser Schule, die eigentlich eine naturwissenschaftliche Prägung hatte.
Die erste Stunde war wie jedes Jahr Klassenleiterstunde mit allerlei Informationen und Organisatorischem. Nichts für Schrimp, der das Prickeln brauchte, das Köpferauchen der Klugscheißerchen, die sich im verzwickten System der Evolution verhedderten und die sich wohl deshalb nichts so sehnlichst wünschten wie den Glauben an die Schöpfung, der man nicht auf den Grund zu gehen hatte.
In der ersten großen Pause war Schrimp nach frischer Luft zumute. Er ließ die Fenster breit öffnen und trieb die Klasse vor sich her auf den Schulhof, wo ausgerechnet Aaron Hofaufsicht schob. Am Zaun gleich neben der Turnhalle stieg dichter Qualm über den Köpfen der Schüler auf und es schien in der Tat, als ob einige Schüler das Teufelszeug nach anderthalb Stunde Abstinenz bitter nötig hätten. Die Lehrer waren keine Vorbilder. Sie hatten ein Raucherzimmer, aber zuweilen sah man sie mit einem Glimmstängel direkt auf dem Treppenabsatz am Hofeingang stehen.
Aaron rauchte seit einiger Zeit nicht mehr und das war das sicherste Zeichen, dass es ihm nicht gut ging. Schrimp stellte sich neben ihn, biss in einen Apfel und schwieg derweil. Bei dem Pausenlärm war es gut zu schweigen, aber Aaron schwieg, als beachte er Schrimp nicht einmal.
»Tut mir leid, wegen vorhin«, sagte Schrimp irgendwann mit vollem Mund. Aaron rieb wieder seine Hände gegeneinander, wurschtelte in den Taschen seines Jacketts herum und kramte eine kleine gelbe Schachtel heraus, nahm mit zittrigem Griff ein Bonbon und schob es zwischen die blassen Lippen. Erst dann ließ er sich auf Schrimp ein.
»Das wird nicht das letzte Leid bleiben. Glaub mir.«
Irgendetwas hatte Aaron verändert. Das spürte Schrimp.
»Weißt du, wie dein Gesicht aussieht?«
Aaron atmete tief, so wie Raucher tief atmen, wenn sie besonders viel von dem tödlichen Gift benötigten, um ihre Nervosität zu bekämpfen. Aaron aber sog nur den von Eukalyptus getränkten beißenden Speicheldunst bis in die krächzenden Bronchien. Seine Stimme blieb gelangweilt:
»Ich weiß. Fräulein Brown hat es mir schon gesagt: Like raining cats and dogs. Oder so ähnlich.«
Schrimp schickte einen säuerlichen Blick herüber. Auch wenn Aaron mit Englisch rein gar nichts am Hut hatte, verstand er ihn, aber so wie Aaron die Sache interpretierte, hatte er es nicht gemeint. Er hätte das blasse Gesicht als Braunbier und Spucke bezeichnet, nicht als Regen, der für ihn ein Synonym für Übellaunigkeit war. Aaron war nicht übellaunig. Eigentlich nie. Und das war das Beachtliche an diesem Mann. Wer mit einer solchen Frau gestraft ist, dürfte ruhig übellauniger sein.
Nein, mit Hanna wollte niemand gerne zusammen sein. Vermutlich mied man auch Aaron wegen seiner griesgrämigen Frau.
Auch Schrimp hatte mit Aaron nicht wirklich etwas hergemacht . Weder Musik noch Deutsch waren je seine Interessen gewesen, nicht einmal, als seine alten Lehrer an der Waterkant ihn noch den lütten Ole nannten. Jede Unterhaltung mit Aaron landete früher oder später bei den Lehrfächern, direkt oder indirekt. Das zumindest hatte sich inzwischen geändert.
Im Winter vor zwei Jahren fanden sie sich plötzlich - und zur Überraschung beider Seiten – im gleichen Hotel auf Rügen wieder. Schrimp erinnerte sich gut. Für den ersten Eindruck war Hanna verträglich gewesen und dennoch spürte man, wie sie Aaron zu dominieren versuchte. Erst war das Zimmer nicht warm genug und Aaron musste eine Auseinandersetzung mit der Reiseleitung führen. Nach ihrem Triumph, als sie daraufhin für den gleichen Preis eine Suite bekamen, hatte Aaron erst recht das Nachsehen. Er musste für sie um die gewohnte Sorte Müsli beim Frühstück kämpfen und um einen besseren Platz im Bus, wenn sie Ausflüge machten.
Das alles ging Schrimp und Inka nichts an, aber abends, wenn sie gemeinsam zum Essen in eines der Restaurants im Ort liefen, ging das Gezeter auch ihnen auf die Nerven. Der Weg – obwohl es ein erholsamer Gang auf der verschneiten Uferpromenade war - dauerte Hanna viel zu lang. Schrimp war da fein raus, aber Inka nicht. Sie musste die Nörglerin ertragen. Er hatte es so eingerichtet, dass er mit Aaron zumeist ein paar Schritte voraus ging. Sie hatten sich einiges zu erzählen, was ihnen im hektischen Schulbetrieb nur selten gelang.
Einmal war bei Aaron der Geduldsfaden gerissen. Er hatte nicht gleich auf eine Bemerkung von Hanna reagiert und sie beschimpfte ihn prompt wegen übler Stimmung, die ihr den Urlaub verderbe.
»Üble Stimmung?«, maulte Aaron in einer Art, die man bei ihm nie vermutet hätte. »Üble Stimmung ist genau das, was du permanent verbreitest.«
Wahrscheinlich schämte er sich vor ihm und Inka für Hannas Art. Bei Fedders ging es nie polternd zu, eher einmal zu sanft für ihr Alter. Und sie ignorierten sich nicht. Im Gegenteil, bei ihnen hatte man das Gefühl, sie konnten sich nicht nah genug sein. Das war dann später auch der Grund für Aarons vorsichtiges Lästern. Immerzu sprach er listig vom Liebesleben der Nacktschnecken, bis Schrimp sich darauf einließ.
»Besser Sex mit einer Nacktschnecke, als eine Gottesanbeterin zu begatten.«
»Was ist an der Gottesanbeterin so schrecklich?«
»Das Liebesleben. Es ist kurz und schmerzlich. Er wird dabei gefressen.«
»Von ihr? «
»In innigster Umklammerung. «
Das Lachen wollte kein Ende nehmen und das war für Hanna Grund genug, wütend das Restaurant zu verlassen und den weiten Weg auf der Strandpromenade von Binz in der Dunkelheit und allein durch den frisch gefallenen Schnee zurück zum Hotel zu stapfen. Seitdem gab es beinahe keinen Tag, wo Aaron und Ole - der von Aaron jetzt auch Schrimp genannt wurde - nicht über die schönste Nebensache der Welt philosophierten. Natürlich stets die anderen Kollegen betreffend, vornehmlich die weiblichen.
Seit einem halben Jahr aber redete Aaron über Impotenz, über das Älterwerden und über Krankheiten, für die man in jungen Jahren allenfalls ein müdes Bedauern übrig hatte.
Sie saßen lustlos in den Bänken, obwohl es die erste Stunde war. Einige hatten ihre Köpfe über ausgestreckten Armen auf den Tisch gelegt. Nicht einmal Schrimps rasanter Schritt und das Schlagen der Tür störte ihr morgendliches Phlegma. Er hatte ganz selten einen Grund über Disziplin zu klagen, im Gegensatz zu anderen Kollegen. Er hatte so seine Methoden.
»Wir drehen hier keine Doku über den Gammelfleisch-Skandal.«
Seine Schüler wussten, was er damit meinte und erst recht, wenn er ihnen eine Drohung mal nicht auf Plattdeutsch zumutete: Nur wer dieser Schule würdig sei, dürfe in diese Schule gehen. Schrimp klatschte hart in seine kräftigen Hände: »Auf geht's. Zeit, die Welt zu retten.«
Kaum einen Sekunde verging, da war von Phlegma keine Spur mehr, da flogen die Blöcke unter die Tische, ratzten zwanzig Stühle über das staubige Linoleum, um unter der Bank eingeklemmt zu werden. Bei diesem Wetter gingen die Schüler – Jungen wie Mädchen - gerne mit Schrimp in die Natur. Erstaunlich war, dass er an diesem Tag mit ihnen ging. Gewöhnlich reservierte er für Exkursionen die Doppelstunden. Heute hatten sie nur eine Stunde Biologie und heute war noch etwas anders.
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