Kläuschen hatte inzwischen den Großteil der Scheine eingesammelt. Es fanden sich nur noch einige wenige, die er auch noch aufhob und in den Aktenkoffer legte. Dann übergab er den Koffer Brombach. Der nahm die Basisstation des Senders und prüfte, wo das rote Kreuz jetzt war. Nach einer Weile meinte er zu Travniczek: „Wenn ich das Display richtig verstehe, muss sich jetzt der Sender in unmittelbarer Nähe befinden, d. h. in diesem Aktenkoffer. Wir haben also gefunden, wonach wir gesucht haben.“ Dann wandte er sich an Kläuschen Heintz: „So, und jetzt sagst du uns, wo du das Geld herhast.“
„Herr Kommissar, isch bin jetzt ganz förschterlisch in der Klemme. Sie wolle e Erklärung, die Se mir glaube könne. Dann muss isch abber ebbes erfinde, denn wenn isch Ihne erzähl, wies werklisch war, glaube Sies mir sischer net, so verrückt is die Geschischt. Abber aans kann isch Ihne schon emal saache. Isch hab des Geld nachgezählt. Es sin genau Hunnerttausend Euro.“
„Da sind wir aber froh, dass du uns das Geldzählen abgenommen hast. Aber jetzt heraus mit der Sprache. Woher hast du das Geld?“
Kläuschen Heintz zögerte lange mit der Antwort. Dann stammelte er: „Isch…isch habs…gefunne.“
„Mach Sachen. Und wo?“
„Im Schlosspark.“
„Ach nee, und Vater Rhein ist der Weihnachtsmann. Kläuschen, du enttäuschst mich. Du hättest dir etwas Besseres einfallen lassen können. Wir machen jetzt Folgendes: Wir nehmen dich mit zur Polizeidirektion, und dort unterhalten wir uns noch einmal in Ruhe. Bis dahin kannst du dir genau überlegen, wie die Geschichte tatsächlich war. Aber eines in allem Ernst. Nimm dich in acht. Es geht bei der ganzen Sache nicht primär um den Zaster, sondern es geht um Mord. Und ich hoffe für dich, dass du nicht in diese Sache verwickelt bist. Es täte mir ehrlich leid, müssten wir dich für viele Jahre hinter Gitter schicken. – Chef, sind Sie mit dem Vorgehen einverstanden?“
„Ist schon o. k. Bei der Gelegenheit können wir auch irgendwo eine Kleinigkeit essen, inzwischen habe ich einen Bärenhunger.“
Die beiden Kommissare nahmen Kläuschen Heintz in die Mitte und gingen mit schnellen Schritten schweigend zurück zu ihrem Dienstwagen. Dort wo der Weg wieder in den Philosophenweg einbog, stand ein Kiosk. Travniczek hielt an und meinte: „Ob die hier etwas Vernünftiges zu essen haben?“
Außer Eis und anderen süßen Kleinigkeiten gab es belegte Brötchen und heiße Wurst. Er bestellte dreimal Bockwurst und Kläuschen Heintz bedankte sich überschwänglich für die Einladung. Denn bei der Aufregung der letzten Nacht war er noch nicht dazu gekommen, sich etwas zu essen zu organisieren. Während sie aßen, ließ Travniczek seinen Blick über die vor ihnen ausgebreitete Stadt schweifen und versuchte, sich an das zu erinnern, was ihm vorher sein Kollege erklärt hatte. Und jetzt erst empfand er die wunderbare Harmonie der Formen von Gaisberg und Königstuhl, den Zusammenklang von Ruhe und Kraft. Die Schönheit dieses Ausblicks bewegte ihn tief. Er erlebte sie in bedrückendem Widerspruch zu seiner eigenen verfahrenen Lebenssituation, die ihn aus München hatte fliehen lassen. Gern hätte er diese Stadt unter anderen Bedingungen kennengelernt. Aber vielleicht, dachte er, finde ich ja hier wieder zu meiner früheren Lebensfreude zurück.
Es war mittlerweile 14 Uhr 45. Martina Lange saß an ihrem Computer im Büro der Mordkommission und suchte nach Vermisstenmeldungen in der weiteren Umgebung, die auf das Mordopfer passten. Da klingelte das Telefon und sie nahm den Hörer ab.
„Hallo, hier Martina Lange, Mordkommission Heidelberg, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag, hier Elisabeth Jakob“, erwiderte eine dunkle Stimme mit nicht zu verleugnendem Pfälzer Akzent am anderen Ende der Leitung. „Ich bin Sekretärin am Kurfürst-Friedrich-Gymnasium Heidelberg. Es geht um eine ganz merkwürdige Geschichte. Heute Morgen ist einer unserer Lehrer nicht zum Unterricht erschienen, ohne sich krankzumelden. Er ist ein sehr gewissenhafter Kollege, und daher war das schon sehr ungewöhnlich. Ich habe dann bei ihm zu Hause angerufen und dort seine Frau erreicht. Die reagierte auf meinen Anruf mit Panik. Sie hatte offenbar keine Ahnung, wo ihr Mann sein könnte. Sie wollte Nachforschungen anstellen und uns dann wieder Bescheid geben. Ich bin wegen der extremen Reaktion der Frau ziemlich besorgt. Mindestens zehn Mal schon habe ich versucht sie zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon. Was mich jetzt zusätzlich erschreckt, ist, dass man mich zur Mordkommission durchgestellt hat.“
„Nun, wir arbeiten zurzeit an der Aufklärung eines Tötungsdelikts, bei dem die Identität des Opfers noch nicht geklärt ist. Deswegen landen bis auf weiteres alle Vermisstenmeldungen routinemäßig direkt bei uns. Können Sie mir zunächst Namen und Adresse des verschwundenen Lehrers nennen?“
„Es handelt sich um Dr. Gottfried Wolters, wohnhaft in Handschuhsheim, Mühltalstraße 150.“
„Könnten Sie mir den Herrn auch noch kurz beschreiben, Alter, Größe, Haarfarbe usw.?“
„Mmh, als Frau würde ich mal sagen, ein ausgesprochen schöner Mann.“
„Geht es auch etwas genauer, die Geschmäcker sind bekanntlich sehr verschieden.“
„Natürlich, aber das mit dem schönen Mann ist hier so allgemeine Redensart, wenn es um Dr. Wolters geht, deswegen ist es sicher wichtig. Ich habe jetzt sein Geburtsdatum nicht griffbereit, aber er muss so Mitte vierzig sein, ja, und groß ist er, ich würde sagen, so zwischen 1,80 und 1,85, dunkelbraune, relativ lange, leicht gelockte Haare und eben ausgesprochen schöne Gesichtszüge. Das passt doch hoffentlich nicht auf das Mordopfer.“
„Dazu kann ich jetzt leider nichts sagen. Wenn Sie mir noch Telefon- und Handynummer von Herrn Wolters geben könnten.“
Martina Lange schrieb die beiden Nummern auf einen Zettel, bedankte sich und versprach, sich wieder zu melden, sobald sie etwas Konkretes herausgefunden hätten. Sie legte den Hörer auf und warf einen Blick auf das Foto des Getöteten, das an einer Pinnwand neben der Tür hing. Die Übereinstimmung mit der Beschreibung der Schulsekretärin war so offensichtlich, dass eigentlich kaum ein Zweifel bestand: Dieser Dr. Gottfried Wolters musste das Mordopfer sein. Sie beschloss, sich sofort in die Mühltalstraße aufzumachen, und griff nach ihrem Handy, um ihre Kollegen zu informieren. Da hörte sie Schritte auf dem Gang. Die Tür öffnete sich und Travniczek und Brombach traten mit Kläuschen Heintz ein.
„Wen bringt ihr denn da?“, fragte Martina Lange. Sie wusste, dass sie den Gefangenen zwar von irgendwoher kannte. Aber an die näheren Umstände ihrer Begegnung konnte sie sich nicht mehr erinnern.
„Wir waren erfolgreich“, entgegnete Brombach mit stolzgeschwellter Brust. „Das ist unser alter Freund Klaus Heintz. Bei unserem Besuch an der Bismarcksäule hat uns der Sender zu einem Aktenkoffer mit 100.000 Euro geführt. Und diesen Aktenkoffer hatte unser alter Freund hier bei sich. Also, wenn der jetzt nicht wirklich plausibel erklären kann, wie er in seinen Besitz gelangt ist, dann sieht es schlecht für ihn aus.“
Martina Lange schaute in das durch und durch gutmütige Gesicht von Kläuschen Heintz, warf Travniczek einen fragenden Blick zu, den dieser mit leichtem Kopfschütteln beantwortete, und murmelte vor sich hin: „Also, Mörder sehen in der Regel anders aus.“
Brombach öffnete den Mund, um etwas von sicher grundsätzlicher Wichtigkeit zu sagen. Doch seine Kollegin kam ihm zuvor. „Auch ich war erfolgreich. Die Identität des Mordopfers scheint mit hoher Wahrscheinlichkeit geklärt.“
„Bevor Sie weiterreden“, unterbrach sie Travniczek, „wollen wir doch erst einmal Herrn Heintz in einem Verhörraum einquartieren. Frau Siebert, rufen Sie doch bitte jemanden von der Bereitschaft, der dann eine Weile bei ihm bleibt.“
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