Seit Tagen haben auf Zypern die Banken geschlossen und an den Geldautomaten kann man nur kleine Beträge abheben. Frankreich und Großbritannien bekräftigen ihre Absicht, die syrische Opposition mit Waffen zu beliefern. Der Mann schüttete die abgekühlten Boilies in ein Plastikeimerchen. Das sollen die lieber sein lassen, dachte er. Was vor zwei Jahren in Tunesien und Ägypten seinen Anfang genommen hatte, dieser Arabische Frühling, setzte sich in Libyen fort und entfesselte dort einen Bürgerkrieg. Auf Seiten der Rebellen griffen Franzosen, Briten und die Amerikaner in die Kämpfe ein, später auch die Nato. Die Afrikanische Union und einige islamische Staaten protestierten erwartungsgemäß gegen die Intervention. Schließlich waren die Aufständischen in Tripolis eingezogen und bald darauf starb Gaddafi eines mysteriösen Todes. Inzwischen hat dieser Arabische Frühling Syrien erreicht. Vorgestern erst attackierten Rebellen einen Stadtteil von Damaskus mit Mörsergranaten. Einige davon waren in ein Hotel eingeschlagen, worin sich Beobachter der Vereinten Nationen aufhielten. Der Mann schüttelte den Kopf. Wohin soll das führen? Er dachte an Fouad, in den sich Wibke verknallt hat, ein Libanese mit deutschem Pass an derselben Schule wie sie und im selben Lehrjahr. Die Familie war vor ein paar Jahren von Beirut her nach Hannover gekommen. Wohin das nur führen soll? Beirut liegt keine hundert Kilometer von Damaskus entfernt. Er ging zum Kühlschrank, strich Fleischsalat auf zwei Brötchen und umwickelte sie mit Aluminiumfolie. Beim Angeln auf dem Eis wird man hungrig. Es kann Mittag werden, bis er einen Karpfen am Haken hat. Karpfen sind vorsichtige Fische. Er würde noch die Staumeldungen abwarten und dann ins Heideviertel fahren, wo Schenderlein ein kleines Einfamilienhaus bewohnt.
Der Sprecher im Radio gab bekannt, dass sich das unbeständige Wetter der letzten Tage fortsetzen wird. Im Norden sei mit Schneefall zu rechnen. Es folgten die aktuellen Temperaturen einiger Landeshauptstädte. Für Hannover wurden minus sieben Grad angegeben. Der Mann ging zum Fenster und blickte auf das Thermometer. Am Weißekreuzplatz waren es sogar minus acht Grad. Während der Staumeldungen zog er sich die Thermowäsche an. Der stockende Verkehr am Kreuz Ost ging ihn nichts an. Er packte Fellhandschuhe in einen kleinen Rucksack, eine dicke Pudelmütze und die beiden Brötchen. Ehe er in den mit Daunen gefütterten Anorak kroch, verabschiedete er sich von seiner Frau. Sobald er einen Karpfen angelandet habe, würde er Bescheid geben. Er steckte das Telefon in die Innentasche des Anoraks und ging zum Auto.
Schenderlein öffnete im Morgenrock. Vor kurzem war der Platzwart des Anglervereins in Rente gegangen und genoss es, im Bett zu bleiben, bis in ein triftiger Grund daraus vertrieb, zumeist der morgendliche Hunger. Guten Morgen Leonard, sagte er und zeigte mit der Hand hinein in die gute Stube, wie er sein Atelier nannte. Als pensionierter Ingenieur konnte er sich nun ganz seinem Hobby widmen, der Malerei. Kaffee oder Tee, fragte er und hielt dem Besucher einen Kleiderbügel für den Anorak hin. Eigentlich weder noch, sagte Leonard, aber wenn es sein muss, dann Tee. Er zog die Schuhe aus, griff nach den ihm hingestreckten Pantoffeln und folgte dem Alten ins Atelier.
Während Schenderlein in der Küche Wasser für den Tee aufsetzte und mit Geschirr klapperte, warf Leonard einen Blick auf die Staffelei. Eine begonnene Winterlandschaft war da zu sehen, eine flache Welle verschneites Heideland. Im Vordergrund stemmte sich ein gedrungener Baum kahl gegen einen grauen Himmel, aus dem jeden Moment Schnee fallen musste. Neben der Staffelei lag auf dem Sitz eines Stuhles ein gerahmtes Foto. Der auf der Leinwand noch kahle Baum war mit dunklem Weiß überpudert. Wirr standen ihm die Äste vom Stamm ab, der sich kurz über dem Erdboden mehrfach teilte und so einem hoch aufragenden, dickarmigen Busch ähnelte. Neben ihm und in die Tiefe der Landschaft hinein zeigte das Foto zwei weitere derartige Büsche, geduckte Wesen in schmutzigem Schnee. Dazwischen ein dürrer Stamm mit schwindsüchtigen Ästen. Die wirken wie Ausgestoßene, dachte Leonard, vier Wanderer in einer verschneiten Wüste. Vielleicht eine Allegorie auf den Mensch der Moderne. Vielleicht auch ein Gleichnis auf Schenderleins Weg durchs Leben. Er wusste so einiges von diesem Leben, das drei Jahre nach dem Ende des Krieges in Eisenach begann. Als Schenderlein zum ersten Mal davon erzählte, lag die Stadt noch jenseits von Mauer und Stacheldrahtzaun. In Eisenach, das wusste man auch im Westen, wurde Bach geboren und auf der Wartburg hat Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt. Manchmal gab Schenderlein Lehrstunden in Heimatkunde, draußen auf dem See, im Kahn und mit der Angel in der Hand. Thüringen im Wandel der Zeiten. Einwanderung der Slawen, Aufstand gegen die Franken, Feldzug gegen die Awaren, Christianisierung unter dem Benediktiner Bonifatius, Gründung eines Klosters in Ohrdruf. Der geächtete Martin Luther als Junker Jörg auf der Wartburg. Luthers Schmähschrift gegen die aufständischen Bauern und seinen Widersacher Thomas Müntzer. Müntzers Hinrichtung nach der Niederlage der Bauern bei Frankenhausen. Wenn Schenderlein so richtig in Fahrt kam, legte er die Angel beiseite und rief mit einem Fingerschnippen Zeitzeugen der Lokalgeschichte herbei. Wallenstein zieht als Heerführer des Kaisers mordend und plündernd durch die thüringischen Lande. Schwedens König Gustav Adolf rückt mit seiner Armee in Erfurt ein. Kurz darauf fällt er in der Schlacht von Lützen. Die Schweden gehen, die Schweden kommen zurück. Sie bleiben auch nach dem Ende dieses Dreißigjährigen Krieges im Land. Napoleon betritt die Bühne thüringischer Geschichte und brüstet sich mit seinem Sieg über die Preußen bei Jena und Auerstedt. Jena an der Saale. An seiner Universität wirkten Schiller und Hegel. Weimar an der Ilm. Herder und Goethe in Weimar. Liszt und Nietzsche in Weimar. Eisenach an der Hörsel. Schenderlein winkte ab, als Bach und Luther sich in den Vordergrund schieben wollten. Er rief einen Burschenschaftler herbei, der die Fahne Schwarzrotgelb zum Zeichen seiner patriotischen Gesinnung schwenkte. Bebel kam aus dem Gasthof Goldener Löwe herbei gerannt. Mit lauter Stimme verlas er das Protokoll der Verhandlungen zur Gründung einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei im deutschen Reich. Der Sozialdemokrat Baudert erschien und berichtete von der Gründung des ersten thüringischen Arbeiterrats in Eisenach infolge der Novemberrevolution. Die Schrecken des Weltkrieges staken ihm noch in den Knochen. Als Schenderlein ihn entließ, machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Weimar, wo die Nationalversammlung tagte und über die Verfassung einer nun endlich zu gründenden deutschen Republik beriet. Leonard wurde in solchen okkulten Momenten manchmal ganz schwindelig und dann war er froh, wenn Schenderlein wieder zur Angel griff. Irgendwann war der Platzwart auf sich selbst zu sprechen gekommen und auf das Eisenach seiner Kindheit. Geboren am Kupferhammer zwischen der Eisenbahnlinie und dem Flüsschen Hörsel einerseits und der Mühlhäuser Straße und dem Eisenacher Motorenwerk andererseits, wuchs er im Spannungsfeld zwischen einem evangelischen Vater und einer katholischen Mutter auf. Als Fünfjähriger hörte er von einem Streik im Motorenwerk. Es war der siebzehnte Juni dreiundfünfzig. Zehn Jahre später starb der Vater bei dem Versuch, den Grenzzaun nach Hessen zu übersteigen. Schenderlein faszinierten die alten Sprachen und hatte den Wunsch, Philologie zu studieren. Da war es sein Glück, dass es in Eisenach eine Schule gab, an der nicht nur Latein, sondern auch Griechisch unterrichtet wurde. Kaum das Abitur abgelegt, griff die Nationale Volksarmee nach dem Wehrpflichtigen. Im Herbst nach der Entlassung wollte Schenderlein sein Studium beginnen. Doch im Sommer dieses Jahres waren Panzer des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei eingerückt, um dort eine Konterrevolution zu verhindern. Es hatte Tote gegeben. Schenderlein glaubte an die sozialistische Idee. Er glaubte jedoch nicht an einen sozialistischen Internationalismus, mit dem die Intervention begründet wurde. Aus Sympathie mit dem überfallen Land heftete er dessen Flagge an einen Besenstiel und stellte ihn am Burschenschaftsdenkmal auf. In Eisenach war daraufhin der Teufel los. Schenderlein kam mit einem blauen Auge davon, doch mit dem Studium war es vorerst vorbei. Er musste sich in der Produktion bewähren, im Lausitzer Braunkohlerevier. Ein Knochenjob im Tagebau. Er durfte dann doch noch studieren, allerdings nicht Philologie. Also Studium des Maschinenbaus und schließlich ein Diplom als Ingenieur in der Tasche. Als solcher zurück in den Tagebau, später ins Gaskombinat Schwarze Pumpe. Auf Ulbricht folgte Honecker. Schenderlein meinte, es ginge nun aufwärts mit diesem sozialistischen Staat. Das Westfernsehen war nicht mehr verboten und in Kunst und Literatur sollte es keine Tabus mehr geben. Doch dann bürgerten die hohen Genossen einen Barden aus, der ihnen allzu frech erschien. Biermann durfte nach einem Konzert in Westdeutschland nicht in die Heimat zurückkehren. Daraufhin bekundeten einige der bedeutendsten Künstler und Schriftsteller des Landes ihre Solidarität mit dem Verfemten. Andere stellten Ausreiseanträge in dem Westen. Später auch der Ingenieur Schenderlein. Da war klar geworden, dass die Leute im Politbüro mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika nichts zu tun haben wollten. Als Schenderlein im Westen eintraf, fühlte er sich wie ein Ausgestoßener.
Читать дальше