Mit einem Lufthauch von links kündigte sich die Ankunft eines Zuges an.
“Ich schätze, da kommt was,” meinte der Professor, dem eine gewisse Anspannung anzumerken war; unter der Erde schien er sich rätselhafterweise nicht besonders wohl zu fühlen.
“Das finde ich irgendwie immer wieder von neuem witzig,” ergänzte Christian, “dass man die Bahnen erst spürt, dann hört und zuletzt sieht. Ist irgendwie die falsche Reihenfolge.”
Die Bahn rauschte herein und hielt quietschend. Der alte Wissenschaftler wirkte etwas verunsichert; ein Gefühl, welches sich während der Zugfahrt noch steigerte. Man muss dazusagen, dass die Fahrt vom Heidelberger Platz auf den Prenzlauer Berg eine kleine Reise durch die halbe Stadt ist, die einmal zum Behufe des Umsteigens unterbrochen werden muss. Dabei ändern sich natürlich auch die Gesichter, die Kleidung und das Verhalten der Leute ständig, was den offensichtlich ohnehin leicht klaustrophobischen Professor doch zunehmend irritierte. Nach dem Umsteigen auf die U2 beruhigte sich der Ältere jedoch allmählich und begann seine vorübergehende ungewohnte Umgebung vorsichtig, aber neugierig zu betrachten. Neben einer älteren bebrillten, Zeitung lesenden Dame saß ein junges knutschendes Pärchen, eines von der Sorte, welche aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus kommt und alles komisch zu finden scheint. Ein ziemlich alter Mann mit starkem Berliner Akzent bekam zwei Plätze weiter seinen winzigen, ununterbrochen kläffenden Hund nicht in den Griff und zerrte ungeduldig an der Leine. Zwei Punks lehnten gemütlich an der Tür und unterhielten sich über eine gemeinsame Freundin, später dann über die Vorzüge verschiedener Biersorten; ihre Sprache schreckte den Mann aus den Dreißigern ziemlich ab; jedoch versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, die zwei sahen irgendwie gefährlich aus.
An der Mohrenstraße stiegen vier sehr junge Mädels ein, die offenbar gewillt waren, die Geräuschkulisse des Hundes zu übertönen, und das arme Tier damit völlig verstörten. Wittmann war der Ansicht, dass sie arg frieren müssten. Weiter hinten im Wagen unterhielt sich eine Gruppe jüngerer Angestellter, von denen jeder völlig verschieden aussah, die aber alle gleich gekleidet waren, was der alte Professor höchst vergnügt zur Kenntnis nahm; seine anfängliche ängstliche Unsicherheit wich allmählich einem Gefühl behaglichen, interessierten Staunens.
Am Senefelder Platz war für sie Endstation.
“Hören Sie mal, das ist ja wie im Zoo,” meinte der Alte amüsiert beim Aussteigen, “Hier kann man ja wirklich noch etwas lernen. Keine Sorge, ich meine das nicht böse. Aber ich habe nicht gewusst, was das menschliche Haar alles mit sich machen lässt. –Im übrigen ein Kompliment an Ihre Zeit: die Bahnen sind umsonst. Herzlichen Glückwunsch!”
Christian lachte:
“Achje, wie süß! Umsonst! Nein, nein, wir sind schwarz gefahren. Haben Sie nicht die Schilder gesehen von wegen ? Ist im übrigen mein absolutes Lieblingswort.”
“Herr Fink! Warum denn dieses? Man kann doch nicht schwarz fahren!”
“Es war doch Ihr erstes Mal, und ich dachte, wenn es Ihnen nicht gefällt, kann die BVG auch keine Kohle dafür kriegen.”
“Sagen Sie mal, wie reden Sie eigentlich? Wenn ich eine Leistung in Anspruch nehme, muss ich doch auch dafür zahlen, es sei denn...”
“Ja, ja, schon gut. Heute Nachmittag sind Sie noch fröhlich in fremder Leute Eigentum herum spaziert. Egal, Schwamm drüber, ich hätte Sie schon da wieder rausgehauen.”
Christian grinste weiter und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Sie gingen schweigend um ein paar Ecken, und schließlich meinte er: “So, wir sind da.”
Er zeigte auf eine Flügeltür, auf welcher sich das Wort “Charleston” gleichmäßig verteilte.
“Das könnte Ihnen gefallen. Ob der Schuppen das Ambiente wirklich trifft, kann ich nicht beurteilen, aber er macht auf 20er Jahre. Sie können das dann ja mal kommentieren.”
Sie betraten die etwas schummerige, dem Leser vielleicht noch ganz von ferne bekannte Kneipe; an der rechten Seite zog sich eine blitzblanke Bar in die Länge, der Raum selber war, etwas chaotisch, mit kleinen runden Marmortischen gefüllt, im hinteren Abschnitt stand ein Klavier, das von einer seltsamen kitschigen Stehlampe neblig beleuchtet wurde, daneben zeigte ein Ständer mit dazugehörigem Mikro in die Luft. Besonders voll war es nicht, nur an wenigen Tischen saßen Pärchen, die sich leise zu gedämpfter Jazzmusik unterhielten oder anschwiegen.
Einen gewissen Charme versprühte der Laden durchaus; man wurde jedoch nicht wirklich genötigt, an die Zwanziger zu denken. Christian steuerte, den Alten im Schlepptau, einen Tisch ziemlich genau in der Mitte des Ladens an; man setzte sich und orderte Martini.
“Und? Was meinen Sie?”
“Hm,” überlegte Wittmann, “ich bin natürlich kein Kneipengänger, auch in Nachtclubs bin ich nur höchst selten unterwegs. Ich muss allerdings sagen, dass dies hier weder nach einer Kneipe noch nach einem Club aussieht, sondern am ehesten –aber auch dies nur von ganz ferne– an ein Caféhaus erinnert. In meiner Zeit kann man die Luft in einer Kneipe schneiden, und man trinkt Bier darin und gewiss nicht... was haben Sie da bestellt?”
“Martini.”
“Wie auch immer. Und es gibt nur wenig Lokalitäten, die ich als so dezent wie diese hier einstufen würde. Vielleicht, wie gesagt, ein Restaurant oder ein Caféhaus.”
“Im Grunde ist das auch keine Kneipe hier, da haben Sie recht. Nur bezeichne ich immer alles, wo ich abends hingehe, als Kneipe, egal, ob’s nun eine ist oder nicht. –Aber Ihnen gefällt ‘s hier?”
“Och, Herrje, ja, warum nicht? –ja, es ist ganz angenehm. Ich glaube übrigens, dass wir heute abend noch in den Genuss einer Vorstellung kommen werden; haben Sie das Mikrophon schon bemerkt?”
“Ähm, nein...” Christian saß mit dem Rücken zum Piano und musste sich umdrehen.
“Ja, hier gibt’s öfters Live-Musik.”
“Was bitte?”
“Live-Musik. Vorstellung sagt man heute nicht mehr, es sei denn, Sie gehen ins Theater.”
Der Martini kam.
“Das kennen Sie auch nicht, oder? Ist ultralecker.”
“So lecker wie Cola, ja, junger Freund?”
“Ach was; dieses Gesöff ist geradezu der Kern jeglicher Lebenskultur. Auf Ihrs!”
“Ja, Prosit!” meinte der andere; sie tranken, und Christian schnalzte mit der Zunge.
Der Professor hingegen blieb skeptisch.
“Das ist doch Wermut, nicht?”
“Ja, kann sein,” antwortete Christian harmlos.
“Mein lieber junger Freund, man trinkt keinen Wermut. Das ist Fusel. Nichts für feinere Zungen.”
“Ach wo. Im Gegenteil. James Bond ernährt sich nur von so was. Ach herrje, den kennen Sie ja auch nicht. O Mann, Sie haben wirklich was verpasst. Na egal. Lassen Sie doch mal den guten Bürger in der Schublade, der passt sowieso nicht zu Ihnen. Wichtig ist nur, dass es Ihnen schmeckt.”
“Ich kann mich nicht beklagen.”
Der Professor äugte ins Glas und verzog jeden Gesichtsmuskel.
“Was trinken Sie denn, wenn Sie weggehen?” fragte Christian interessiert.
“Weggehen? Sie meinen ausgehen. Nun ja, ich erwähnte bereits, dass ich mich selten in solchen Etablissements blicken lasse, am ehesten gehe ich einmal am Nachmittag ins Caféhaus. Ich trinke gerne Wein und am allerliebsten Cognac, aber nur selten und nur zuhause, und nur nach getaner Arbeit. Außer Hauses verlasse ich mich nur ungern auf die Zungen zweitklassiger Köche und Kellner. Außerhalb greife ich daher in den wenigen Fällen, von welchen da zu berichten wäre, auf ein frisch gezapftes Bier zurück.”
“Das gibt’s hier auch, natürlich. Also wenn Ihnen der Martini zu süß wird, haben Sie die freie Auswahl aus x verschiedenen Bieren: Deutschland, Holland, Amerika, Irland. Ansonsten gute Longdrinks und passable Cocktails.”
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