Sie klopfte zögerlich und trat ein, der Wirt sah kurz auf und meinte: “Wir haben geschlossen.”
Sein leichter, melodischer Akzent verriet ihn als Sachsen.
“Ick hab nur ne Frage.”
Der andere machte sich keine Mühe aufzusehen, aber er schien sich von der Gegenwart des Mädchens überhaupt nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
“Ick meine,” begann Charlotte schüchtern und kam alsbald ins Stottern, “et is so, also, icke-- also, so, dass..... ick brauch Geld und hab keins.”
“So geht’s uns allen,” antwortete der Wirt, “willst du hier arbeiten?”
“Ja, det wär ideal, weil ...”
“...du kein Geld hast, schon klar. Sprich doch mit Lennie! Tja, also... heute abend hab ich schon zwei, das wird wohl ausreichen, heut wird nich viel los sein. Aber morgen vielleicht als Aushilfe?”
Sie meinte, sie könne sowieso alles, und sie wäre dabei, noch besser aber könne sie tanzen.
“Nee, so was machen wir nicht, junge Frau.”
Da er ihr sympathisch wirkte, ging sie vorsichtig in die Offensive, wenn schon nicht tanzen, dann halt wenigstens heute bedienen; schließlich war sie wirklich unglaublich verdammt pleite und brauchte definitiv sofort Kohle.
“Ojeoje,” meinte dieser und stellte ein nicht sauber zu kriegendes Rotweinglas auf die Theke. “Abgebrannt, wa? Kann ich nischt machen. Haste keine Freunde inner Stadt?”
Charlotte wollte fast „doch“ sagen, aber da fiel ihr ein, dass präzise Antworten heute ihr Ding nicht sein konnten. Tränen schossen in ihre Augen, und sie gab sich alle Mühe, sie zurückzuhalten.
“Na ja, ick meine, nur wegen den Kröten, hab halt nischt zu fressen und zu pennen, da dacht ick, ob vielleicht heute schon wat machbar wäre.”
“So allein? So arm? Na ja, Großstadt eben, man kennt das. Also heute hab ich schon zwei Bedienungen, wie gesagt. Denen kann ich schlecht sagen, nö, heut nich –das ist nicht meine Art. Sorry. Ab morgen sieht die Welt ganz anders aus. Und wenn du ne Unterkunft suchst, da ließe sich was machen.”
Charlotte erschrak. Das hatte schon mal jemand in ähnlichem Kontext zu ihr gesagt, ihr ein Lager angeboten und sich dann als Grapscher herausgestellt. Charlotte fühlte sich nur mittelmäßig behaglich. Er hingegen wandte sich offensichtlich desinteressiert und in aller Seelenruhe wieder seinen Gläsern zu.
“Findeste mich nich hübsch, det is besser so.”
“Das vielleicht doch...” Er setzte das eben behandelte Glas wieder ab und lächelte.
“Eigentlich schon. Bist hübsch. Aber ich seh das aus nem anderen Blickwinkel, wenn du verstehst.”
Charlotte stand völlig auf dem Schlauch und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
“Meine Güte, du siehst gar nicht so begriffsstutzig aus... also wie gesagt, is alles kein Problem, vorausgesetzt, mein Freund hat nischt dagegen.”
“Du bist schwul,” fragte Charlotte mit sich erhellendem Blick, “det find ick ja super.” Der Typ gefiel ihr doch.
„Hm?“ fragte er undeutlich nach.
“Na, du lebst mit deinem Freund zusammen, immerhin, det... also det hat sich wirklich verändert.”
Da der andere nicht wusste, dass sie eine unfreiwillige Zeitreise hinter sich hatte, war er etwas überrascht von dem Wort “verändert”; er bezog es schließlich auf die Tatsache, dass sie eigentlich hinterm Mond leben musste.
“Hör zu,” sagte er, “das geht schon klar, wenn dir mein bescheidenes Heim reichen sollte, vorläufig, wie gesagt, und wenn mein Mann nischt dagegen hat. Ich bin ja kein Arschloch, das arme Frauen einfach in der Kälte pennen lässt. Aber was willst du machen, wenn nicht Bedienung?”
“Na - jaaa, ick kann schon kellnern, so is det nich. Würde natürlich lieber det machen, wat ick richtig kann.”
“Klar. Ich auch. Man kann sich nich alles aussuchen. Übrigens gibt’s zehn die Stunde...”
“Mark?” fragte Charlotte entgeistert. Sie war andere Zahlen gewöhnt.
“Na klar, was denkst du denn? Pfennig? Lire? Haha. Du bist ja putzig.”
Sie musste sehr weit hinterm Mond leben. – “Zehn Mark bar auf die Kralle. Plus Trinkgeld.”
“Det is ziemlich viel, find ick.”
“Alter Osten, was? Na, es ist vielleicht nicht schlecht, aber auch nicht gerade fürstlich. Mehr kann ich mir nicht leisten, tja. Aber sei guten Muts, so wie du ausschaust, kriegst du gut Trinkgeld.”
Er hauchte in ein Cocktailglas und beäugte es kritisch.
“Du kannst nicht zufällig singen, was?”
Charlotte riss die Augen auf, und zwar sehr weit: “Doch”, stammelte sie.
Der Wirt beschloss nun, die Frage des Tages zu stellen.
“Wie sieht’s denn so aus mit Chansons, vielleicht aus den Zwanzigern und Dreißigern?”
Charlotte schluckte. “Ehrlich jesagt, is det mein Spezialgebiet. Ick kann nur so wat.”
Der Wirt verzog die Augenbrauen in verschiedene Himmelsrichtungen: “Nein, wirklich?”
“Ja, klar.” Charlotte hätte fast hinzugefügt: guck mich doch mal an! aber das ließ sie schön bleiben, sie hatte sich schon genug blamiert.
“Du siehst auch irgendwie ein bisschen so aus. Nimm’s mir nich übel. Irgendwie musste ich bei dir gleich an Zwanziger Jahre denken. –War ne geile Zeit, glaub ich.”
Er guckte voller Hochachtung in die Luft.
“Also gut. Pass uff,” sprach er weiter, “ich hatte für heute abend eigentlich jemand eingeplant.
Sie singt Chansons aus der Zeit, na, Zwanziger, Dreißiger, so ’n Kram. Aber sie is krank, und die ganze Chose fällt aus. Das spart mich dreihundert Piepen, aber mein Umsatz sinkt in den Keller. Freitags erwarten die Leute so was, immerhin heißt das Loch hier nich umsonst . Na ja, wir machen es so: du singst heute abend. Sag mir, was du drauf hast.”
Charlotte zählte freudig erregt auf.
“Jaja, schon gut,” unterbrach er sie fröhlich, “das könnte hinhauen. Das passt für ’n Anfang.”
“Ja, und wat is mit Klavier; hast du ’n Pianisten?”
“Der steht vor dir.”
“Det is ja knorke!”
Der Wirt lächelte.
“Ich heiße übrigens Lennie. Sonst auch Leonhard. Ganz wie belieben.”
Charlotte stellte sich brav vor, und sie schüttelten Hände.
“Wir machen das so. Du singst heut probeweise, ohne Bezahlung, Essen und Trinken umsonst, klar. Wir probieren das jetzt mal. Das Klavier ist hinten. Wir müssen wenigstens alles einmal gespielt haben, sonst geht das in die Hose. Und ich will ja meinen Gästen was bieten, ni war?”
“´tschuldjung, kann ick erst ma wat essen?”
“Höhö,” flötete Lennie und kramte von irgendwoher eine Schrippe (=Brötchen, Übersetzung für Nichtberliner) hervor. Charlotte schlang gierig; mehr musste es ja für den Anfang nicht sein.
Sie war genaugenommen richtig glücklich. Lennie schloss die Tür ab, latschte in den hinteren Teil der Kneipe und setzte sich an das dort befindliche, altehrwürdige Piano: “Nu?”
Sie kam nach und stellte sich etwas unsicher neben das Instrument.
Er schlug ein paar Töne an, und sie stieg direkt ein:
LIED
Als die letzten Töne verhallten, schaute Lennie seine frischgebackene Sängerin fasziniert an.
Das war nämlich durchaus verdammt gut gewesen.
“Das ist ja unglaublich,” meinte er bewundernd.
Charlotte fühlte sich geschmeichelt und bekam zum erstenmal heute so etwas Ähnliches wie eine Gesichtsfarbe. Vom Singen hatte sie immer geträumt.
“Also, an deiner Intonation musst du noch ein bisschen arbeiten. Aber deine Stimme ist der Hammer.”
“Der Hammer?”
“Ja, geil, toll. Wirklich. Mach was draus! Für heute abend mach ich mir erst mal keine Sorgen. Deine Stimme hat dieses gewisse Etwas, das man selten hört.”
Tatsächlich war es erstaunlich, welche rauchige Kraft aus diesem zarten Geschöpf herausströmte.
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