Die beiden hatten noch etwas über eine Stunde, bis der Laden aufmachte, und nutzten diese Zeit zu einer zügigen Probe.
Christian und der Professor hatten sich derweil entschlossen, diesen Abend auf den Putz zu hauen. Allerdings war der jüngere der beiden sich nicht sicher, ob sie jeweils dasselbe darunter verstünden; immerhin zählte der Physiker selbst ohne Zeitsprung vierundsechzig Lenze und war somit doppelt so alt wie Christian; und bei diesem Generationenunterschied, auf den noch die übersprungene Zeit hinzugerechnet werden musste, konnte man durchaus von verschiedenen Geschmäckern und Vorstellungen ausgehen.
“Ach, wissen Sie,” raunte der Professor gütlich, “führen Sie mich irgendwohin, wo immer Sie hin wollen. Sie kennen ja das Berlin dieser Zeit unzweideutig besser als ich, und außerdem haben Sie das Portemonnaie.”
“Ich hab schon ein paar Ideen. Also! Folgendes. Sie haben die letzten vierundsechzig Jahre nicht mitbekommen. Ihnen wird schon aufgefallen sein, dass sich die Leute heutzutage anders anziehen.”
“Das wäre ja auch mehr als verwunderlich,” trompetete der Physiker, “meinen Sie, ich werde ausgelacht, so wie ich aussehe?”
“Nein, Quark. Das ist Berlin. Hier können Sie auch nackig herumlaufen. Aber die Aufmerksamkeit ist auf Ihrer Seite. Irgendwann werden wir Ihnen aber doch ein paar Klamotten besorgen müssen, bevor Sie anfangen zu stinken. Sie können ja nicht ewig in diesem Zeug stecken bleiben.
Ich für mein Teil gehe jetzt duschen. Sie können natürlich auch, wenn Sie wollen.”
“Es wäre das erste Mal in meinem Leben.”
“Ach du je. Uff. Aber irgendwann...”
“...ist immer das erste Mal, ich weiß; ich kenne diese Redensart. Ich werde es probieren. In meiner Zeit legt man sich in die Wanne.”
“Ein teurer Spaß. Na ja, fühlen Sie sich wie zuhause. –Sie wissen, wie ich das meine.”
Als er dann nach einer guten Viertelstunde, nur mit einem Handtuch bekleidet, wiederkam, begann der Professor mit einem kleinen Vortrag.
“Ich habe alle Geräte verstanden,” sagte er, ohne aufzublicken, und zeigte auf diverse Bedienungsanleitungen, “und das war auch nicht allzu schwer. Das Gerät unterhalb Ihres Fernsehers ist genauso aufgebaut wie dieses CD-Grammophon, obgleich es eine völlig andere Funktion hat. –Sie nennen offenbar heute Video, was wir früher unter Film verstanden. Die Zeichensprache darauf ist jedenfalls offensichtlich für Idioten und Analphabeten geschaffen. Ihr sobezeichnetes Kassettendeck verstehe ich als eine Art Tonbandgerät in Kleinformat; auch dies war nicht schwer zu ergründen. Ihren Kühlschrank und Ihr seltsames Gerät daneben... wie heißt es gleich?...ach ja, Mikrowelle! Diese beiden Dinge durfte ich ja bereits begutachten. Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir in meiner Zeit den Kühlschrank auch schon kannten. Die eigentliche, tiefere Funktion der Mikrowelle ist mir ein wenig suspekt, muss ich ehrlich hinzufügen. Eine Art Backofen vielleicht? Ich habe einen Einwand gegen Ihre Zeit, aus dem Sie keineswegs ein persönlichen Angriff herauslesen sollten: Sie haben sich viel weniger weiterentwickelt als ich vermutet hätte.”
Christian trocknete sich leidenschaftlich ab und ließ ein “Höüää?” hören.
“Jaja, mir war klar, dass Sie sich dagegen sträuben würden, was ich Ihnen zu sagen habe. Wie eingangs erwähnt: dies ist keineswegs eine Kritik an Ihnen, mein junger Freund. Es ist alles mehr Schein als Sein, aber das hatte ich befürchtet, da meine Zeit diese Neigung bereits in sich trug –und was läge näher als zu vermuten, dass eine solche Neigung in der Zukunft noch verstärkt würde?”
“Professor,” wandte Christian ein, doch Wittmann hatte Lust, noch ein bisschen zu dozieren.
“Sie müssen wissen, dass wir das Radio schon kennen, ein durchaus revolutionäres Prinzip; wir besitzen schon die Hälfte Ihrer Kücheneinrichtung, wie ich finde, die sinnvollere Hälfte.
Wir kennen und benutzen das Grammophon, aus welchem Sie den CD-Spieler gemacht haben. Und wir haben den Film, den Sie jetzt Video nennen. Was hat sich denn wirklich verändert?”
“Lieber Professor, das ist doch nicht der Punkt. Sie haben doch noch lange nicht alles gesehen.
Und eine Sache, mal nebenbei: diesen CD-Spieler, den Videorecorder, und all die anderen Dinge, die Sie hier sehen, vom Kühlschrank ganz zu schweigen: das hat heutzutage fast jeder! Es ist ja auch eine Errungenschaft, dass sich praktisch alle Menschen oder zumindest die überwältigende Mehrheit diese Sachen leisten können, oder? Hatte denn in Ihrer Zeit jeder Radio, Film, Grammophon?”
“Nein, aber man konnte ins Kino gehen, ins Konzert, und so weiter, und so fort. Man musste nur durch seine Haustür spazieren.”
“Schön und gut, das können Sie heute auch noch. Man geht ins Theater, ins Konzert, und die Kinos haben vollere Kassen als je zuvor.”
“Ja, aber tut man das auch noch? Ich meine, wenn jeder diese kleinen Geräte hat, wozu vor die Tür gehen? Lohnt sich das alles überhaupt?”
“Und wie! Ich glaube schon, dass die Leute heutzutage mehr und vielleicht auch regelmäßiger zum Beispiel ins Kino gehen als vor sechzig Jahren. Oder meinetwegen auf irgendwelche Konzerte. Hängt natürlich ganz davon ab, wer spielt, oder welcher Film geboten wird. Klar. Und für den Geschmack meiner Zeit hafte ich, bitte schön, nicht.”
Der Physiker nickte bedächtig mit dem Kopf.
“Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Sie haben mich nicht überzeugt. Allerdings haben Sie in einem Punkt ja recht; ich habe noch viel zu lernen und sollte nicht allzu hastig urteilen. Nun! Für heute ist es gut, wir werden morgen weitersehen, und vielleicht glaube ich Ihnen auch, wie toll und sagenhaft Ihre Zeit ist.”
“Das ist wohl ein Missverständnis,” erwiderte der jüngere, “ich habe nicht gesagt, dass die Zeit toll ist. Nur: sie hat ihre Vorteile, und die sollte man nicht kleinreden. Sonst ist man schnell auf dieser Fortschritts-Verdammungs-Schiene, Sie wissen schon, was ich meine.”
“Natürlich, ich bin Physiker, Sie rennen gerade eine offene Tür ein.”
“Schon gut. Gehen Sie jetzt ruhig mal duschen; Sie werden sehen, es wird Ihnen gut tun.”
Eine gute halbe Stunde später bewegten sich die zwei in Richtung der U-Bahn-Haltestelle Heidelberger Platz. Für den Zeitgast sollte es die erste Fahrt im Keller der Stadt sein, und Christian musste ihn einige Minuten lang weich klopfen, damit er einwilligte.
“Natürlich gibt es das auch in meiner Zeit,” hatte er erläutert, “aber ich war in dieser Hinsicht immer etwas konservativ. Ich fand es immer eher unheimlich, in den Eingeweiden einer Stadt herumzugraben.”
“Ich dachte, Sie sind ein Mann des Fortschritts,” hatte Christian erwidert, worauf der Professor nur noch einige ängstliche Einwände bringen konnte und sich alsbald mürbe ergab.
“Es ist ohnehin ein Witz,” ergänzte Christian, als sie die Treppen zur Station hinabstiegen,
“die U-Bahn fährt ja zu weiten Teilen überirdisch, am Prenzlauer Berg zum Beispiel überqueren Sie mit der U-Bahn ganze Straßenzüge und die S-Bahn noch dazu.”
“Das ist sozusagen meine Jungfernfahrt, also halten Sie mich notfalls fest,“ antwortete der andere, immer noch ängstlich, „ich war im übrigen stets ein überzeugter Fußgänger.”
“Löblich, löblich. Und wie haben Sie weite Strecken in Berlin zurückgelegt? Wenn Sie etwa, so wie wir heute, von Wilmersdorf auf’n Prenzlauer Berg wollten?”
“Ach Gottchen, Sie reden zu viel und denken zu wenig. Es gibt Straßenbahnen, Omnibusse, Taxen. Letztere waren stets mein bevorzugtes Fortbewegungsmittel innerhalb der Stadtgrenzen. Allerdings bin ich ein arbeitsamer Mensch, der es sich nicht leisten kann, ständig in der Gegend herum zu fahren.”
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