“Was immer das sei. Ich bin nicht ganz im Bilde über die gesamte Abwechslung, die der Mensch aus der Droge Alkohol herausholt.”
“Ach was Droge,” erwiderte Christian, “Volksbelustigungsmittel.”
“Nein, nein,” beharrte der andere, “Alkohol ist eine Droge, und zwar rein wissenschaftlich gesehen meines Erachtens eine der stärksten, die der Mensch kennt. –Oh, da kommt die Musik.”
Ein dunkelhaariger Mann, welcher Christian, der hier ab und zu verkehrte, durchaus bekannt vorkam, betrat die Kneipe durch eine Hintertür und steuerte auf das Piano zu, gefolgt von einer schmalen jungen braunhaarigen Frau, die sich sehr schüchtern ans Mikrophon stellte.
“Meinen Sie, das wird was zum Zuhören oder eher zum Weghören?” feixte der Professor.
Während dieser Frage hatte sich die Sängerin vorgestellt, jedoch hatte weder der Wissenschaftler noch Christian die Ansage verstanden, um so überraschter waren die zwei, und zwar aus verschiedenen Gründen, als sie sang:
LIED
Sehr vorsichtig, zart und viel zu leise hatte sie begonnen, mehrmals hatte sie, deutlich zu beobachten, von ihrem Pianisten auffordernde, aufmunternde Blicke erhalten, und sie steigerte sich allmählich in die Form hinein, die sie Lennie am Nachmittag geboten hatte. Schließlich, gegen Ende des Liedes, besaß sie wieder diese Aura aus Rauch und mädchenhaft - unschuldiger Verruchtheit in der bebenden Stimme, dass das ganze Publikum irritiert und freudig überrascht klatschte.
Christian befand sich in einem Zustand äußerster Erregung. Diese Stimme aus solch zierlicher feiner Gestalt! Sie war nur fünf oder sechs Meter von ihm entfernt; seine Neugier glitten über ihre Figur und ihr Gesicht, ohne ihren Blick je erhaschen zu können, denn ihre Augen schienen die Introspektive zu suchen und die Gäste gar nicht zu bemerken.
Eng und kurz lagen ihre Haare am schmalen, blassen Gesicht, der einzige, etwas milchige Scheinwerfer ließ das Kastanienbraun rötlich schimmern und rang ihren Wangenknochen starke Schatten ab. Christian, der sich umdrehen musste, um sie zu betrachten, bekam allmählich Probleme im Nacken, so begeistert war er von ihr: er hatte die Möglichkeit schlichtweg vergessen, sich eventuell bequemer hinzusetzen. Nur in den Pausen zwischen den Liedern nahm er auch anderes wahr als sie, so vereinnahmte sie ihn; sobald sie wieder anfing zu singen, hing er von neuem an ihren Lippen, die den vollsten und klarsten Gesang preisgaben, den er überhaupt je gehört hatte. Und gerade hatte er einen kurzen Blick von ihr empfangen! Mit einem Wort: es war um ihn geschehen.
Der Professor hingegen verfärbte sich dunkelrot. Er besaß zwar ohnehin eine recht gesunde Gesichtsfarbe, aber nun konnte man selbst in diesem Halbdunkel erkennen, dass ihn irgend etwas an dem jungen Mädchen –vielleicht peinlich– berührte. Er leuchtete wie ein Apfel in der Sonne.
Offensichtlich hatte er beschlossen, zu trinken, denn ein gerade bestellter zweiter Martini wurde hastig hinunter gestürzt, und ein dritter sollte alsbald folgen; der alte Kauz schien doch auf irgendeine Art Gefallen an dem süßen italienischen Getränk zu finden. Seine Bewegungen wurden ruckartiger, nervöser, so als könne er der Musik zum Teufel nicht zuhören; geschulte Augen konnten natürlich schnell erkennen, dass seine Unruhe mit der Musik nichts zu tun hatte.
Es gab nun eine Pause.
“Trinken Sie nichts heute?” fragte er angesichts des jungfräulichen Glases an Christians Platz, “diese Substanz wartet sehnsüchtig darauf, von Ihnen getrunken zu werden.”
Noch mehr als Christians Unlust zu trinken überraschte den Alten aber sein Gesichtsausdruck, als er sich zur Hälfte wieder Richtung Tisch umdrehte: der Mund leicht geöffnet, die Atmung stark, und in die sonst so nüchternen und etwas kühlen Augen hatte sich ein Glänzen gelegt, das dem gewieften Wissenschaftler schon lange nicht mehr untergekommen war. Er furchte die Brauen.
“Hallo?”
Doch Christians Herz pochte zu laut in seinem Hals, um irgendwelche Anreden wahrzunehmen.
Denn die Sängerin kam gerade auf die beiden zu, was er bemerkte, ohne dass er sie sehen konnte. Der Professor bemerkte aus seiner Unruhe heraus viel später, dass er auf dem besten Wege war, angesprochen zu werden.
“Sie hier?” fragte das Mädchen als erstes, und der Alte versuchte ein wenig herumzudrucksen.
“ Sie kennen sich ?” fragte Christian erstaunt; die Frage richtete sich allerdings aufgrund seiner natürlichen Schüchternheit eher an den Wissenschaftler als an sie.
“Klar,” meinte sie direkt, “der Herr war doch bei uns im Modern, mit ´n paar Kollegen, wenn ick mir recht entsinne.”
Christian und Wittmann waren gleichermaßen perplex; der Alte vielleicht noch mehr, da er schneller als sein neuer Bekannter begriff, dass hier irgendwas schon rein physikalisch verkehrt gelaufen war.
“Wie kommen Sie eijentlich hier her?” fragte nun die Kleine, da sie genauso wenig wie der Professor mit einem derart verschobenen Wiedersehen gerechnet hatte.
Während Christian nicht aufhören konnte, die junge Frau stumm und mit tausend Fragen im Kopf anzuhimmeln, redete sich der andere nun um Kopf und Kragen. Er konnte ja die Zeitmaschine schlecht erwähnen, und peinlich schien ihm die Begegnung auch zu sein. Und wie zum Teufel konnte es eigentlich sein, dass die junge Frau, für welche die halbe Universität heimlich und vergeblich schwärmte, jetzt und hier im Jahre 94 wieder auftauchte? Er verspürte den Drang, das irgendwie zu erklären, und insgeheim wusste er ja schon bescheid, denn die Vereinigung von Baum und Haus hatte bereits demonstriert, dass bei Zeitreisen jedweder Art offensichtlich verschiedene Unregelmäßigkeiten zum Geschäftsrisiko gehören. Da er seine Gedanken jedoch nach außen um nichts in der Welt preisgeben durfte, haspelte er ungeschickt herum: etwas Unerklärliches sei passiert, er wisse auch nicht, was los sei, und so weiter und so fort (und in Gedanken: musste das sein, geh doch fort, Kind, und hör auf, mich zu blamieren...)
Sie runzelte nur ein bisschen die Stirn, sofern es da etwas zu runzeln gab.
Ab und zu warf sie Christian einen verstohlenen, neugierig gefärbten Blick zu, welchen dieser permanent erwiderte.
Der Alte hatte allmählich ausgehaspelt, und da wandte sich das Mädchen dem andern Gast zu:
“Ick bin übrigens Charlotte. Und Sie?”
“Du,” krächzte Christian.
“Wie meinen?”
Christian räusperte sich relativ erfolglos.
“Du, nicht Sie.”
“Det wäre schon machbar,” erwiderte sie ohne jede falsche Scham, “aber eijentlich wollt ick wissen, wie du heißt.”
“Christian.”
Mit der Stimme war nichts mehr anzufangen. Charlotte griemelte kurz, dann verwandelte sich das Griemeln in ein Lächeln, welches unserem Helden eine interne Klimaerwärmung bescherte.
“Ick muss wieder uffe Bühne,” meinte sie locker, “nich wegloofen, ihr zwei!?”
Fort war sie, über die sogenannte Bühne durch die Hintertür nach Irgendwo. Christian starrte ihr mit einem berauschten Lächeln hinterher und schwebte für einige Momente überm Tisch, während sich umliegende Gegenstände und Personen vorübergehend in der Raumzeit verloren.
Von ferne gurgelte ein Echo an sein Ohr: “Lieber --lieber --Herr --Herr --Fink...”
Das “K” hallte nach und zog ihn langsam auf die Erde zurück.
“Lieber Herr Fink,” meinte eine sonore Stimme zu ihm, “vielleicht sollte ich Ihnen etwas erklären.”
Christian brauchte eine Weile, um diese Anrede zu begreifen, doch allmählich hatte ihn die Wirklichkeit wieder, und er hörte zu.
“Ich weiß nicht, ob Sie’s bemerkt haben, dass wir uns kennen,” versuchte der Professor zu erläutern, “ich meine natürlich das Mädchen und mich; Sie waren ja ganz offensichtlich eine Weile lang nicht ansprechbar. Nun, wir kennen uns aber tatsächlich, wenngleich nur flüchtig und oberflächlich. Wissen Sie, was das heißt?”
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