Der Alte hatte nun seine Sprache wiedergefunden und versuchte seinem Gegenüber eine logische Verknüpfung zu erklären.
“Nein,” quakte Christian.
“O je, lieber guter Freund, wo ist denn Ihr Verstand hingeflogen? Kaum ist man verliebt, geht die Intelligenz flöten, nicht wahr? Der Mensch verliert jedes Mal, wenn er sich verliebt, mindestens zehntausend Gehirnzellen, das ist meine Theorie; und wenn er heiratet, gleich eine Million. Es gibt keine effektivere Möglichkeit, sich zu ruinieren; ein Vollrausch mit anschließendem Koma ist ein Witz dagegen. Hören Sie zu! Ich kenne dieses Mädchen. ”
“Schön.”
“Das heißt: sie hat meinen Zeitsprung mitgemacht. Noch eine Unregelmäßigkeit. Hören Sie, das ist nicht lustig; das Mädchen tut mir leid. Und ich möchte wissen, welche Überraschungen wir sonst noch erleben.”
Kurzes Schweigen.
“Ich find's ganz schön, dass Sie sie mit rüber gebracht haben,” seufzte Christian.
“Tja, ich bin weniger begeistert. Ich muss dem armen Kind doch eigentlich erklären, was los ist.
Ich habe doch nicht gewollt, dass so etwas passiert. Die Arme war doch wahrscheinlich völlig verstört.”
“Ach, ich finde, sie schlägt sich wacker.”
“Ja fabelhaft!” trötete der Wissenschaftler, „die Kleine gehört nicht hierher – das ist der Punkt, und nicht, wie sie sich schlägt! Auf gut Deutsch: unser Geheimnis wird nicht mehr lange eines sein.”
“Es ist schon jetzt keines mehr,” sagte eine helle, ernste Stimme von der Seite.
Die beiden schauten auf.
Kurze überraschte Pause.
“Friwi!” rief der Wissenschaftler, “jetzt schlägt ‘s aber dreizehn!”
“Guten Abend,” meinte der Angesprochene ruhig und sachlich, “willst du uns nicht vorstellen?”
Er deutete auf den frisch Verliebten mit den großen Augen.
“Ach ja, natürlich; Friwi, das ist Christian Fink, Architekt und mein Begleiter durch diese neue Zeit; Herr Fink, dies ist Friedrich Wilhelm Markowsky, mein herausragender Freund und Kollege, in dessen Haus wir uns heute umgesehen haben und dem ich einiges, wenn nicht alles, verdanke.”
Händeschütteln.
“Friwi, alter Junge,” maunzte der Professor, “wieso bist du eigentlich hier? Erst dieses Mädchen...”
“Die Sängerin, die mal Tänzerin war?”
“Genau.”
“Julius, du hast Mist gebaut.”
“Haha!” trompetete der Kritisierte, “du hast es mir ja nicht glauben wollen, was? Zeitmaschine!” imitierte er ihn spöttelnd, “Zeitmaschine –das geht nicht, lass es doch sein, verschwende nicht deine Zeit! Das funktioniert doch niemals!”
“ Es hat auch nicht funktioniert .”
“Was? Haha! Wo befinden wir uns denn? Und, bitte, wann? Bitte, Christian, mein lieber junger Freund, sagen Sie dem netten Herrn doch, welchen Tag wir haben.”
“Es ist der 2. September 1994.”
“Tja, Friwi!” Der Alte warf sich in die Brust. “So sieht‘s nämlich aus, mein kleiner Versuch wurde ein voller Erfolg. Auch dich hat wohl eine Unebenheit in der Raum-Zeit-Korrelation mitgenommen. Und du weist einige Symptome akuter Verwirrung auf. Setz dich doch bitte.”
Friwi Markowsky setzte sich. Erst jetzt konnte man ihn besser erkennen. Ein ebenmäßiges, wenig gealtertes schmales Gesicht kam zum Vorschein. Fahlblaue Augen flossen wahrlich über vor Melancholie, die graue Gesichtsfarbe schien sich mit dem aschblonden, schütteren Haar zu decken.
Er war ähnlich gekleidet wie der Professor, wenn man einmal von seiner langen, schlanken Figur absah, und davon, dass seine Klamotten einen teureren und frischeren Eindruck machten und auf größeren Wohlstand oder besseren Geschmack zu deuten schienen. Allerdings täuschte das schummerige Licht auch ein wenig, selbst Wittmann wirkte viel rosiger und jünger als sonst.
“Du solltest dich rasieren, Friwi!” witzelte dieser, “man erkennt ja Doktor Markowsky kaum noch!”
“Mir ist nicht nach Scherzen zumute,” antwortete der Angesprochene mit Grabesstimme:
“Wir haben ein gewaltiges Problem. Du hast Mist gebaut, Julius, kolossalen Mist: wie ich sagen muss, zum ersten Mal in deinem Leben. Du hast einen schwer wiegenden und vielleicht nie wiedergutzumachenden Fehler begangen. Ich bin versucht, ein Fäkalwort zu benutzen.”
“Ach was, wieso denn?” Wittmanns scherzende Miene war nun einer abwartenden gewichen; er kannte seinen Freund gut und hatte ihn selten so verdüstert gesehen.
Zwar neigte Markowsky zum Pessimismus, er war ein ernster und eher stiller Mann, der nur schwierig zum Lachen zu bringen war –aber er besaß keinen Hang zur Übertreibung, und so lag etwas Sorgenschweres und Verzweifeltes in seiner Stimme, was dem Professor die Freude am Wiedersehen gründlich vergällte.
“Julius, Julius,” meinte Markowsky langsam, “du hast noch nicht begriffen, was du getan hast. Du hast eine ganze Stadt verschwinden lassen.”
“Ach bitte!”
“Tja, Julius, du glaubst es nicht? Also schön. Ich werde dir die Erlebnisse des heutigen Tages der Reihe nach erzählen. Ich möchte sehen, was du dann sagen wirst. Wie du weißt, bin ich vorgestern mit meiner Frau auf diesen kleinen Kongress nach Rügen gefahren; nun ja, wenn man da noch von Kongress sprechen kann. –Meine Frau,” wandte er sich Christian zu, “ist ebenfalls Wissenschaftlerin. –Nun ja, gestern erreicht mich eine Depesche: mein Bruder ist gestorben.”
“Das tut mir leid,” sagte Wittmann betroffen.
“Ha –warte ab, es kommt noch schlimmer. Mein Bruder litt seit Jahren an chronischer Bronchitis; nichts zu machen, sagten die Ärzte. Und diese schwere Bronchitis ist aufs Herz übergesprungen. War nur eine Frage der Zeit, bis er von seinem Leiden erlöst würde.
Mein Bruder lebt –oder vielmehr: lebte– mit seiner Frau in Breslau; ich sage das Ihnen, Herr... ach ja, Fink ...da Sie ja auch alles mitbekommen sollen. Hören Sie überhaupt zu? Gut. Nun ja; ich habe sofort telefoniert und zugesagt, dass ich sofort kommen werde. Nach Breslau, versteht sich. Meine Frau blieb an der Ostsee, ich wollte nicht, dass auch sie den Kongress abbricht. Im übrigen ist sie etwas krank, und ich wollte ihr die lange Reise nach Schlesien nicht zumuten. Also setzte ich mich heute früh in eine Droschke, dann in einen Zug nach Berlin, um nach Breslau umzusteigen.
Kurz bevor der Zug in der Stadt einrollt, bleibt er stehen. Zunächst wird angekündigt, es gehe gleich weiter. Dann werden die Bahnbeamten irgendwann ehrlich und sagen, die Fahrt sei zu Ende, und wir könnten von Glück sprechen, mit dem Leben davongekommen zu sein. Ein Signal stand auf Rot, deswegen sitze ich überhaupt nur hier, lieber Julius. Es fehlten Hundert Meter Gleis; so viel zu deinen Unebenheiten in der Raum-Zeit-Korrelation. Haha!
Nun begann die Tortur. Einige der Fahrgäste picknickten im märkischen Sande, ich hingegen hatte es eilig und ging zu Fuß ins nächste Dorf, das zum Glück nicht sehr weit entfernt lag. Dort mietete ich mir ebenfalls eine Droschke: wie hätte ich auch sonst nach Berlin gelangen können!? Ich hatte mich auf meinem kleinen, aufgrund der Hitze recht anstrengenden Fußmarsch bereits gefragt, warum zwischen Stralsund und Berlin plötzlich Gleis fehlt, vermutete aber, es werde sich um einen böswilligen Anschlag handeln. Diesen Kommunisten ist ja einiges zuzutrauen. Als die Droschke jedoch in den Vororten Berlins eintrudelt: was müssen meine alten Augen erblicken? Eine komplett ausgewechselte Stadt! So, meine Herren, das ist das Problem.”
“Ich verstehe gar nichts,” meinte Christian.
“Tja, junger Mann, ich verstand sofort, dass mein geschätzter Freund und Kollege Julius Wittmann dahinter stecken musste. Ich will mich nun kurz fassen: wir schreiben heute den 2. September 1930. Das ist so, daran wird es nichts zu rütteln geben. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen.”
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