Der Professor schaute ihn totenbleich und völlig entgeistert an:
“Das kann nicht sein.”
“O doch,” entgegnete Markowsky kühl, “das kann nicht nur sein, das ist sogar so. –Sagtest du nicht des öfteren selber: ? Nun ja. In gewisser Hinsicht hattest du Erfolg. Du hast die Stadt einfach ausgetauscht und aus der Zukunft in die Gegenwart geholt. Und wir haben den 2. September 1930. Bislang dürften noch nicht sehr viele Menschen außerhalb dieser Stadt etwas gemerkt haben; wie man weiß, ist der 2. 9. ein Feiertag,” wandte er sich wieder an Christian, “und die meisten märkischen Dörfer begehen diesen Festtag, der sich Sedantag nennt; die Leute haben kein Interesse, nach Berlin hineinzufahren; umgekehrt vielleicht schon eher, will ich meinen. Man fährt aufs Land, hisst die schwarz-weiß-rote Flagge und gibt sich emotional deutschnational. So. –Ich denke, dass es einfach nur daher bislang noch keinen Aufschrei gegeben hat. Aber ich werde wohl kaum der einzige sein, der bemerkt hat, dass irgendetwas faul ist im Staate Dänemark. Ich fahre, wie gesagt, mit der Droschke nach Berlin hinein. Und bin in einer Stadt, die ich noch nie gesehen habe. Einige Leute gaffen mich an, als wäre ich gerade vom Himmel gefallen. Eine Droschke in Berlin, das scheinen sie noch nicht erlebt zu haben. Vielleicht wissen sie ja auch gar nicht, was das für ein Gefährt ist, in welchem ich sitze. Wer weiß, vielleicht haben sie auch just noch nie ein Pferd gesehen, was weiß denn ich? Ich merke nur schnell, dass es sich um entweder eine völlig andere Stadt handeln muss –oder aber um das Berlin einer Zukunft; wohlgemerkt, irgendeiner Zukunft, was inzwischen fast gar keine Rolle spielt, wie ich finde, da ohnehin alles relativ ist. Dem Kutscher kommen die Tränen, ab Pankow will er nicht mehr weiterfahren. Ich schätze zumindest, es muss irgendwo in Pankow gewesen sein. Ich bezahle ihn, und das ist natürlich das letzte, was ich in meiner guten alten Währung begleichen kann.
Mit der Zeit werde ich mir sicherer, dass es sich um Berlin handeln muss, ich kenne schließlich den Dialekt und den Geruch dieser Stadt, und ich muss schon sagen: ich war irgendwie erleichtert. Eine Weile lang hatte ich die Vermutung, dass du, lieber Julius, einfach New York oder San Francisco an die Stelle transportiert hast, an welcher in besseren Zeiten einmal Berlin stand. Nun, diese Sorge wenigstens bin ich los. Ich laufe eine Weile Richtung Innenstadt, und da Berlin ziemlich groß ist, kommt mir allmählich doch der Gedanke, ich sollte ein Fahrzeug nehmen.
Nun, Droschken gibt es keine, Taxis allerdings schon; andererseits vermute ich –wie ich jetzt weiß, zurecht– dass mein Geld hier gar nichts wert ist; die Leute haben eine neue Währung und überdies nicht die leiseste Ahnung, dass irgendwas Schlimmes vorgefallen ist. Wie zum Beispiel, dass wir 1930 haben. Also besteige ich die S-Bahn und fahre zum ersten Mal in meinem Leben schwarz.
Nun, was sollte ich tun? Mir wurde klar, dass ich schlechte Karten hatte, wenn ich nach wie vor nach Breslau wollte, und im übrigen suchte ich dich, verehrter Julius, da ich mir schon dachte, dass du das Ausmaß der Folgen deines Handelns nicht überblicken konntest. Am frühen Nachmittag kam ich bei mir zuhause an, die Tür hatte jedoch ein neues Schloss. Ich meine, mir war klar, dass du nicht weit sein konntest, schließlich ist die Zeitmaschine ja dort deponiert. Ich hoffe, das Haus ist zur Zeit unbewohnt! Wie dem auch sei: ich kam natürlich nicht hinein, und du warst ja offensichtlich zu jenem Zeitpunkt nicht dort. Ich versuchte mich in deine Lage zu versetzen, und dies führte mich zum Erfolg...
Meinen toten Bruder hatte ich dann auch fast vergessen; wie ich fand und immer noch finde, ist das, was du hier angestellt hast, eine größere Tragödie als der Tod nur eines Menschen, auch wenn ich diesen Menschen geliebt habe. Im übrigen hatte ich ohnehin kein Geld und war damit der Möglichkeit beraubt, nach Breslau zu gelangen oder wenigstens zu telefonieren. Es war eine Quälerei, mit dem Gepäck durch die Stadt zu laufen, trotzdem wollte ich dich finden. Meine nächste Station war deine alte Wohnung in Wilmersdorf; nun ja, du warst nicht dort. Ich schätze mal, Sie wohnen jetzt dort?” fragte er Christian.
“Ja, das stimmt.”
“Und er hat Sie besucht? Und Sie haben ihm tatsächlich geglaubt, als er von einer Zeitmaschine zu faseln begann? Alle Achtung. –Ich durfte mein Gepäck bei einem alten Herrn abstellen; es ist einer Ihrer Nachbarn, Herr Fink; er schien mir vertrauenswürdig, und ich erfand eine Geschichte, die ich vielleicht bei Gelegenheit mal erwähne. Der Nachbar meinte nur: , und da war mir natürlich klar, dass du, Julius, bereits dagewesen bist.
Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass ich diesem Herrn meinen antiken Spazierstock für einen Spottpreis verramscht habe, um nicht zu verhungern. Es war das einzige von dem, was ich dabei hatte, das ihn interessierte. –Nun ja, was will ich mit einem Spazierstock, mögen Sie fragen, Herr Fink! Diesen Stock hat mein Urgroßvater selbst geschnitzt, anno 1834; ein solches Stück überlässt man außer im Notfall keinem Unbekannten. –Als ich mich also schließlich tränenreich von meinem Erbstück getrennt hatte, dachte ich weiter nach und legte mir allmählich meinen modus operandi zurecht. Ich vermutete, dass du gewiss versuchen wirst, diesen Menschen, deinen neuen Bekannten zu überreden, irgendwas mit dir zu unternehmen, so wie es deine Art ist; du wirst ihm die Zeitmaschine zeigen und die neue Stadt sehen wollen, und so weiter; ich kenne dich ja ein bisschen. Also habe ich ein wenig gegrübelt, wo ihr heute Abend zu finden sein werdet, und ich habe mir gedacht, dass Sie, Herr Fink, wohl die Auswahl treffen werden, alldieweil mein guter alter Freund von dieser neuen Stadt nun gar keine Ahnung hat. Die anschließenden Ermittlungen dauerten Stunden, doch führten sie zum Erfolg. Ich bin hier. Es war der letzte Ort, an welchem ich suchen wollte, wobei der Name vielversprechend war und ich mir zusammengereimt hatte, dass Sie meinem alten Bekannten ein Etablissement mit derartigem Namen vorführen werden. Wärt ihr nicht hier gewesen, hätte ich mich wieder nach Wilmersdorf zurück begeben und euch dort erwartet.”
“Die Zugverbindungen könnten doch noch funktionieren,” wandte Christian ein, der die ganze Geschichte gar nicht als so katastrophal empfand, wie Markowsky sie schilderte, “ich frage mich nur, was für ein Gefühl das sein muss, wenn irgendein Berliner mit der Bahn nach Köln will und 1930 ankommt.”
“...oder fliegt,” ergänzte Wittmann düster.
“Nein, nein, der Flughafen ist tot, die Elektronik ist ja ausgefallen. Da ist’s zappenduster. –Funk und Telefon sind auch ausgefallen,” meinte Christian, nun an Markowsky gewandt.
“Das ist ja eine Katastrophe,” sagte Wittmann tonlos, “wie sollen wir das wieder geradebiegen?”
“Tja, Julius, das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen, nicht?”
“Friwi, das war nicht beabsichtigt! Ich wollte nur eine kleine Zeitreise ins Jahr 1994 machen, nicht eine Stadt ins Unglück stürzen! –Bist du dir ganz sicher, dass alles so stimmt, wie du’s erzählt hast? Wir sind ganz sicher immer noch im Jahre 1930?”
“Sicher.”
“Und ich habe die Stadt der Zukunft einfach nur in unsere Zeit geholt?”
“Genau.”
“Cool,” meinte Christian, “endlich erleb ich mal wieder was; das ist ja wirklich ein toller Tag.”
“Friwi, das ist eine Katastrophe, du musst mir glauben, das war nicht meine Absicht.”
“Julius, was soll ich dir da glauben? Das weiß ich doch! Du bist kein böser Mensch, du wolltest mal wieder nur das beste. Und lass uns nicht mit Entschuldigungen um uns werfen; das macht keinen Sinn. Lieber sollten wir überlegen, wie wir dem beikommen. Kannst du es rückgängig machen?”
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