Nico Oelrichs - DAS ABBILD

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Im Jahre 2075 ist das Leben in den Großstädten sauber und gewaltfrei. Die Menschen kümmern sich nur noch um ihren Sozialen-Status, die neueste Technik und eine steile Karriere. Auch Rachael und Jack führen ein genormtes, oberflächliches Leben. Doch alles ändert sich, als bei Rachael überraschend Krebs diagnostiziert wird. Glücklicherweise gibt es jedoch den globalen Technikgiganten SmarTec, dessen neuestes Projekt die Menschheit auf eine unvorstellbare Stufe erheben wird. Rachael bekommt das einmalige Angebot, ihr Bewusstsein in einen nahezu unzerstörbaren Kunstkörper zu transferieren und damit dem sicheren Tod zu entgehen.
Doch, was wird das mit ihrer Menschlichkeit anstellen? Wo bleibt ihre Seele? Oder besitzt der Mensch überhaupt keine? Als Jack zu allem Überfluss versucht, sich das Leben zu nehmen, beginnt ein unwiderstehlicher Sog in eine ungewisse Zukunft…

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Nico Oelrichs

DAS ABBILD

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Inhaltsverzeichnis Titel Nico Oelrichs DAS ABBILD Dieses ebook wurde erstellt - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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2075 I

13 Monate zuvor

I

II

III

IV

2075 II

Impressum neobooks

2075 I

Das Abbild

von Nico Oelrichs

Das gedämpfte atmosphärische Licht erlaubte nur das Erkennen von Schemen auf einem eigentlich hellen breiten Bett. Wie ein kantiges Stück Treibgut inmitten ozeanischer Schwärze. Und darauf zwei regungslose Körper, halb schwarz vom Schatten, halb bernsteinfarben von den schwachen Leuchtbalken der Wandverkleidung. Eine Frau und ein Mann, bemalt von fast rotgoldenem Schimmer auf vor Nässe reflektierender Haut – die Poren zeichneten sich wie winzige schwarze Krater darauf ab, die leichten Falten der Mundwinkel und um die geschlossenen Augen erinnerten an ein friedliches Dünenpanorama aus großer Höhe betrachtet, die halbuntergegangene Wüstensonne im Rücken.

Über die weibliche dieser Landschaften wehte für den Bruchteil eines Moments ein schroffer Wüstenwind und ließ, fast unmerklich, einige Dünenkämme ihre Position verändern, sodass eine feine Bewegung über das sonst stoisch erstarrte Gesicht huschte und sogleich verschwunden war, als hätte sich am Ende doch nichts geregt. Dann sammelte sich wie von Zauberhand ein kleines Becken voll kristallklaren Wassers in einem der Augenbrunnen des Wüstengesichts, schwoll schnell an, quoll über den Rand und hinterließ eine leicht glitzernde Spur die Wange herab. Ein einzelner Tropfen fiel ab von dem Gesicht und klopfte ganz zart und doch hörbar auf das Gewebe des Bettzeugs, in dessen vielen ineinander verwobenen Fasern er sich schließlich verteilte und nicht mehr länger Trauer war, sondern bloß ein Wassertropfen, der im Laufe der nächsten Minuten vergehen würde; so wie Regen, der auf den Stoff einer Jacke fällt und sich irgendwann, bei angemessener Wärme und Trockenheit, in seine Bestandteile auflöst.

Irgendwann wird alles in seine Bestandteile zerfallen und dann zählt nichts mehr, was einmal gewesen ist. Irgendwann wird diese Trauer nichts weiter sein als ein stilles Echo, welches von niemandem gehört werden kann, als hätte es niemals existiert.

All dies geschah innerhalb einer, höchstens zweier Sekunden: die unwillkürliche Regung des Gesichts, das Erstehen und Herabfallen der einzelnen Träne und schließlich dieser düstere Endgedanke über Zerfall und Nichtigkeit. Doch diese ein oder zwei Sekunden genügten, um das gesamte Universum, welches in jedem Innern eines Menschen rotiert, in unendliche Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu stürzen.

Wie aus einer Trance gerissen, richtete die Frau sich im Bett auf und stützte sich dabei mit ihren Händen von der Matratze ab. Ihre linke Handfläche lag dabei auf der bereits eingesickerten Träne und ihre Haut bemerkte die leichte Feuchte kaum noch.

Siehst du? , schoss es ihr durch den Kopf, kaum noch vorhanden.

Als sie ihre Füße auf den beheizten Steinboden setzen wollte, griff sie eine drahtige Hand von hinten und vergrub sich halbherzig in dem Samtstoff ihres Nachtkleids. Die Frau zuckte, obwohl sie wusste, wer da nach ihr griff, leicht zusammen, pausierte ihre Bewegung, legte dann ihre kühle linke Hand auf die warme Hand des Mannes, schob diese dann sanft und doch nachdrücklich von sich und erhob sich. Sie ging zur Tür, öffnete sie und wagte es nicht, einen Blick zurück zu werfen. Der Mann drehte sich unter einer der leichten Decken herum, atmete gleichmäßig und versuchte seinen Kopf von jeglichen Gedanken zu befreien.

Die Frau schaltete das Licht des Badezimmers ein und ging zum Waschbecken. Dort stützte sie sich auf den weißen Porzellanrand, krallte sich geradezu daran fest, als würde sie ansonsten zu Boden stürzen, da ihre zittrigen Knie ihr Körpergewicht alleine nicht mehr tragen konnten. Dann hob sie langsam den zwischen ihre Schultern gesunkenen Kopf und betrachtete sich verstohlen im Spiegel vor ihr. Ihre schulterlangen hellblonden Haare umrahmten ein eigentlich sehr elegantes und attraktives Gesicht. Ihre Augen waren groß und grün, katzenartig und leicht mandelförmig. Sie hatte etwas Asiatisches an sich, obgleich sie keine asiatischen Vorfahren hatte.

Ihre Wangenknochen waren hoch und markant, ihr Kinn lief spitz zu und gab ihrem Gesicht eine mädchenhafte Form. Die Oberlippe war ziemlich schmal und jetzt blass, die Unterlippe dagegen voll und weich, ideal zum Küssen. Die Wimpern hatte sie sonst stets hervorzuheben versucht und ihre Augen hatte sie mit Schwarz umrandet, gerade so viel, dass es verführerisch und nicht aufreizend aussah. Nun aber waren ihre Augenhöhlen durch mangelnden Schlaf und zu viel Traurigkeit von alleine dunkel geworden und sie empfand sich als ausgelaugt, hässlich und unwürdig. Unwürdig als Frau bezeichnet zu werden.

Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und schnell wand sie sich von ihrem jämmerlichen Spiegelbild ab. Sie drehte sich um, schlang ihre Arme um sich selbst, verschränkte sie fest vor der Brust und umklammerte sich einen Moment. Das Badezimmer war kalt. Sie fror, der Stoff ihres Abendkleides scheuerte auf ihrer empfindlichen Gänsehaut.

„Clara, bitte die Badezimmertemperatur auf 25°C erhöhen. Lass mir ein Vollbad ein.“

„Gerne, Rachael. Das Vollbad wird in genau fünf Minuten bereit sein. Die Temperatur im Badezimmer wird in weniger als einer Minute 25°C betragen. Ich wünsche dir eine angenehme Erholung.“

Beinahe hätte die Frau Danke erwidert, doch dann fiel ihr ein, wie absurd ihre ganze Situation war. Da kam sie gerade aus dem Schlafzimmer, in dem sie noch vor weniger als einer viertel Stunde den erbärmlichen Versuch unternommen hatte, Sex mit ihrem Ehemann zu haben. Dieser Versuch war natürlich gescheitert. Die Absurdität dieses Versuches allein ließ sie jetzt verzweifeln. Sie hatte sich umgedreht und wie ein kleines Kind zusammengekrümmt, eine leise Träne verdrückt, über die Nichtigkeit der Existenz gehadert, war dann aufgestanden und hatte das Abbild von Kummer und Elend im Spiegel betrachtet, sich von sich selbst abgewandt und dennoch diese Ruine eines Körpers fest umklammert, daraufhin ihrem SmartHome den Befehl zum Vollbad und zur Steigerung der Zimmertemperatur gegeben und selbst dabei noch einen Gedanken an Dankbarkeit für die vorprogrammierten Tätigkeiten eines Algorithmus verschwendet.

Die Realität hat dich zerbrochen, das Leben zerbricht dich, und du willst einem Computer danken, dass er dir Wasser einlässt und die Heizung aufdreht. Du bist verloren , dachte sie.

Das Geräusch des in die Badewanne schießenden Wassers weckte sie aus ihrem Gedankenkreisen und Rachael streifte sich das Abendkleid über den Kopf, warf es achtlos auf den Boden. Sie war nackt. Die Wanne füllte sich zu langsam für ihren Geschmack, sie fröstelte immer noch. Ihre langen Beine wanderten über den Rand der Wanne und schnell setzte sie sich in die flache Lache aus Badewasser und hoffte, dass der Pegel rasch steigen und ihren Körper bedecken möge. Sie starrte an die Decke und ein wirrer Gedanke kam in ihrem Kopf auf: Danke Gott dafür, dass du keinen Spiegel an der Decke über dir hast.

Sinnlose, konfuse und selbstzerstörerische Gedanken hatten den Großteil ihres vormals analytischen und sachlichen Denkens übernommen; sie war von einer fantasielosen Buchhalterin zu einem überemotionalen Kind geworden. Beinahe fühlte sie sich zurück in die Zeit ihrer Pubertät versetzt, doch hatte sie sich damals nicht so von Selbstzweifeln und Hoffnungslosigkeit zerfressen gefühlt. Jetzt war sie fünfunddreißig Jahre alt, eine gestandene Frau mit Karriere und Ehemann, einer modernen, sterilen Wohnung und realistischen Zukunftsplänen, in denen das Aufregendste der alljährliche Urlaub war. Doch bedeutete ihr dies alles seit geraumer Zeit nichts mehr. Sie fühlte sich hilflos und schutzlos und als wäre ihr gesamtes Leben zuvor lediglich ein alberner Tagtraum gewesen, aus dem sie schockhaft erwacht war und der alsbald in unbedingter kalter Schwärze enden musste.

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