Nico Kunze - Das Testament

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Josef Huber ist nicht zu beneiden. Der Tod seines verschollen geglaubten Großvaters zwingt ihn und seine chronisch nörgelnden Brüder in die tiefste Tiroler Provinz. Dort erwartet sie bereits ein rätselhafter Notar – und eine Testamentsvollstreckung mit Hindernissen. Schon bald häufen sich die Merkwürdigkeiten und der Kurzausflug gerät nicht nur zur unliebsamen Kletterpartie, sondern zu einer Reise ins Ungewisse.

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Nico Kunze

Das Testament

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Inhaltsverzeichnis Titel Nico Kunze Das Testament Dieses ebook wurde erstellt - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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I

II

III

IV

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VII

Impressum neobooks

I

Josef Huber warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Sie zeigte fünf Uhr und 58 Minuten. Der Zug hatte sich um eine gute halbe Stunde verspätet, aber das war wohl nicht zu ändern. Vom knarrenden Trittsteig aus setzte er, den kleinen Reisekoffer unterm Arm, seinen Fuß auf den fremden Bahnsteig. Eine verwitterte Tafel der Bundesbahnen hieß die Ankömmlinge in “Imst im schönen Pitzenthal” mit gebotener Herzlichkeit willkommen. Vielleicht ein Dutzend Reisende stießen aus der Bahn, umarmten wartende Mütter, schüttelten geschäftig Hände und zerstoben in verschiedene Richtungen. Josef streckte sich und schnappte nach Luft, die herb nach Lokomotivendampf schmeckte. Er hustete. Indes fand auch sein Bruder aus dem Passagierwagon, nicht ohne über das feuchte Trittbrett zu schlittern, und gesellte sich Josef zu. Beide waren sie sichtlich zerknittert von der unfreiwilligen Reise. Schon im Morgengrauen waren sie aufgebrochen, mit der Frühbahn von Graz nach Innsbruck, die sie gerade noch rechtzeitig bestiegen hatten. Geschlagene sieben Stunden und reichlich Kaffee später dann der Umstieg in die Arlbergbahn und nun waren sie also hier gelandet, wo sich Pitz- und Inntal kreuzen, wohlmeinend gesagt, in frommer Peripherie, und blickten sich mit müden Augen um. “Siehst du ihn irgendwo?”, fragte Gustav, sich den fransigen Mantel zuknöpfend. Josef verneinte. Blinzelnd äugten sie in die Bahnhofsdämmerung, gingen ein paar Schritte das Geleise entlang, drehten sich im Kreise, fanden aber niemanden, außer einem jungen Pärchen, das wohl eine ganze Weile hatte aufeinander verzichten müssen. “Vielleicht versteckt er sich ja in der Schenke?”, mutmaßte Josef und wies mit dem Finger auf den wenig wirtlichen Funktionsbau, aus dessen angelehnten Fenstern es nach gespülten Gläsern klirrte und das so typische Bouquet von billigem Tabak und Geschmortem aufstieg. “Steht zu bezweifeln, dass er sich herab lässt, ein solches Etablissment auch nur zu betreten.” Beide wussten sie: Was nach einem Flachs klingen sollte, war alles andere als gesponnen.

So fanden sie Alois dann auch um die Ecke der Station, angelehnt an die spärlich verputzte Wand neben dem Eingang. Den Kragen seines Ulster-Mantels hatte er aufgestellt, den feinen Wollschal bis unter das Kinn gezogen. Nur das kleine Vordach diente ihm als Schild gegen den vernieselten Herbstabend, der die Welt bereits zu verdüstern drohte. Sichtlich angeödet starrte er in den Matsch des Bahnhofsvorplatzes. Was sich auch nicht ändern sollte, als er seine heran nahenden Brüder bemerkte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, hob er an: “Ei, schau an! Grüß Gott, die Herren! Hoffe doch, Sie haben sich vorzüglich amüsiert auf ihrer kleinen Kaffeefahrt, dass Sie diese gleich noch a bisserl ausgedehnt haben. Das würde mir doch das sehr Herz erleichtern, wo ich mir doch seit einer guten Stunde die Beine in den Bauch stehe an diesem Idyll von einem Ort, wo übelriechende Gleisarbeiter aus der Gaststube torkeln und einheimische Nagetiere aus dem Unterholz huschen, um sich an meinem Gepäck zu vergehen. Aber was will denn ich – gerade ich! – mich beschweren! Das Wetter hier ist doch ganz fabelhaft und der Blick auf den Inn, der wie Gulaschsuppe dahin zuckelt, jede meiner seltenen Mußestunden wert.”

Finster nahm er einen letzten Zug, blies eine kümmerliche Schwade in den Vorabend und schnippte den halben Zigarillo in die nächstbeste Pfütze. “Dir auch einen guten Tag, Lois! Wie immer eine unbedingte Freude dich zu sehen!”, versetzte ihm Gustav schnippisch, indem er ihm die behandschuhte Hand drückte. “Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber unsere Verspätung ist tatsächlich unfreiwilliger Natur. Zumindest waren auch wir überrascht, als sich zwischen Pettnau und Flaurling eine Herde Kleinvieh auf die Gleise verirrt hatte und selbst dem dröhnenden Lokomotivhorn zum Trotze nicht weichen wollte”, erklärte Josef. “Es brauchte drei Viehtreiber und das komplette Zugpersonal, um die Schafe den Hang hinauf zu scheuchen. Ein durchaus unterhaltsames Schauspiel. Aber mit weitem Abstand das Amüsanteste, was diese Odyssee zu bieten hatte, das darfst du uns glauben.”

Alois hob eine Augenbraue an, war so leicht aber nicht zu beschwichtigen und gab nur ein mürrisches Knurren zu Protokoll. “Wie war denn deine Reise, Bruderherz? Und was schleppst du eigentlich in dieser Monstrosität von einem Koffer mit dir herum?”, heuchelte Gustav aufrichtiges Interesse. Die folgende Tirade hatte er damit allerdings nicht provozieren wollen. Mit dem ihm eigenen Charme eines geschwätzigen Zynikers schilderte Alois in panoramenhafter Breite seine Geschäftsreise durch den bayrischen Subkontinent, sein Aufeinandertreffen mit anderen Granden der Seifenbranche, die schleppenden Verkäufe in Jammerzeiten wie diesen, in denen die verrohte Menschenheit das heilige Ritual der Körperpflege nur noch als notwendiges Übel betrachtet, sprach vom “unerträglich plebejischen Gewusel” am Münchner Hauptbahnhof, “auf alle Sitten des Abendlandes spuckende” Grobiane an der Zollkontrolle und dem endgültigen Verfall einer so ehrbaren gastronomischen Kapazität, wie es der Speisewagen einstmals war. “In meinem Koffer habe ich demnach – oh, Wunder! – selbstverständlich Proben meiner herrlichsten Seifen und Pflegeprodukte. Wie es geschäftstüchtige Menschen eben halten, wenn sie auf Reisen sind. Aber womit solltet ihr das auch ahnen können, werte Brüder, ihr braven Tischler und Studiosi.”

Josef und Gustav tauschten einen vielsagenden Blick, verkniffen sich aber zu ihrem eigenen Wohle jedwede Anmerkung und versuchten dieses holprige Wiedersehen mit einem Themenwechsel zu entschärfen. “Wo ist eigentlich dieser ominöse Notar?”, fragte Josef ins betretene Schweigen hinein. “Der sollte doch auch schon längst hier sein, oder nicht?”

“So hatte es im Telegramm jedenfalls gestanden”, ergänzte Gustav, “dass er uns am Bahnhof empfangen würde.”

Alois antwortete mit einem nahezu unmerklichen Recken des Kinns, schräg hinüber zu einem Fuhrwerk, das am Rande der schlickigen Bahnhofsstraße auf Insassen lauerte. Wie auf’s Geheiß regte sich etwas unter dem Verdeck. Mit eingezogenem Kopf schälte sich die Silhouette eines großgewachsenen, dürren Mannes aus dem Polster, stieg ungelenk aus der Droschke und streifte sich den deutlich zu kurz geratenen Anzug glatt. Der Mann schien dem Kutscher, der unter seiner Kapuze regungslos auf dem Kutschbock hockte, ein paar Worte zuzuwerfen und setze sich geradewegs auf die Brüder zu in Bewegung.

“Im Gegensatz zu manch anderem”, hier setzte Alois eine vielsagende Pause, “ein ausgesprochen pünktliches Kerlchen. Hat mich wie abgesprochen um fünf Uhr hier begrüßt, mit allem Brimborium und der obligatorischen Beileidsbekundung. Sehr manierlich, sehr manierlich. Wenngleich ein bisschen verschroben, der Bursche. Dachte, ich tue einem Unbedarften etwas Gutes, wollte ihm seine untröstliche Existenz hier am Ende der bevölkerten Welt mit einem kurzen Reisebericht erhellen, ihm die raren Vorzüge und die umso mannigfaltigeren Geißeln des kosmopolitischen Lebens zersetzen, aber er, er wiegelt dankend ab und zieht offenbar die Gesellschaft eines buckligen Kutschers und seiner kränklichen Gäule vor. Sapperlot!, denk’ ich mir. Soll er doch kurzsichtig bleiben! Was will ich auch mehr als meine eigene Gesellschaft an einem so erquicklichen Ort.”

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