Dann umfing sie Dunkelheit.
Jack Dunham saß bequem auf seinem ergonomischen Drehstuhl und ließ die Socialcoms ihm völlig unbekannter Leute vor seinen rasch hin und her zuckenden Augen herunter rattern. Der Kontrast zwischen durchsichtiger Glasscheibe und dem grellleuchtenden Text darauf irritierte seine Augen nach einer Weile und Jack berührte ein Tastenfeld auf dem Schirm vor ihm. Sofort änderte sich die Durchlässigkeit des Glasmonitors und der Text wurde deutlich besser lesbar, allerdings konnte Jack nun nicht mehr länger seinen Kollegen vor sich beobachten. Dieser Kerl, Berry Lindholm, fuchtelte wie ein Epileptiker wild mit den Armen umher und drehte sich dabei auf seinem Bürostuhl, mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung, und faselte etwas mit ausgereift theatralischer Begeisterung über die Vorzüge dieser oder jener InteLens-Version.
Lindholm war unter anderem zuständig für den Kundensupport und nutzte die Produkte, die er anderen Menschen täglich zehn Stunden lang schmackhaft machte, mit fast kindlicher Begeisterung allesamt selbst. Jack kannte Berry nur von der Arbeit her, also seit etwa 4 Jahren, und nie hatte er Berry ohne InteLens und Cereb-Link erlebt, konnte also auch nichts über Berrys wahren, ursprünglichen Charakter sagen. Für Jack war sein Kollege einfach ein Zerrbild eines Menschen; jemand, der sich nicht durch seine ihm angeborenen Stärken und Schwächen oder seine Erziehung, Ausbildung oder durch eigene Gedankenarbeit auszeichnete, sondern jemand, der seine Persönlichkeit so stark abhängig von technischen und medialen Entwicklungen macht, dass er am Ende nicht mehr länger fleischlicher Mensch, sondern eine Idee eines Menschen ist, ausgedrückt durch unmenschliche Werkzeuge. Berry Lindholm war Angestellter und zeitgleich einer der besten Kunden bei SmarTec und somit im Rating über Jack, der lediglich bei SmarTec arbeitete, jedoch bisher noch keines ihrer kybernetischen Produkte erworben hatte. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen waren die Produkte einfach viel zu teuer und da Jack direkt beim Hersteller angestellt war, wusste er im Groben wie teuer die Entwicklung, die Rohstoffe und die Verarbeitung der Gadgets waren und bemitleidete jeden Dummkopf, der sein hart erarbeitetes Geld für die neueste Version einer InteLens aus dem Fenster warf. Der Preisaufschlag im Gegensatz zu den tatsächlichen Produktionskosten war eine Frechheit.
Zum anderen hatte er seinen Kollegen Berry Lindholm als abschreckendes Beispiel. Auch wenn er, wie gesagt, keine Ahnung von Berrys Verhalten vor InteLens und Cereb-Link hatte, so konnte er sich doch vorstellen, dass diese Geräte eine unwiderrufliche und weitreichende Charakterveränderung am Menschen vornahmen. Das soll nicht heißen, dass Jack sich der Technisierung der Welt entzog und sie ausschließlich verteufelte – er selbst hatte seine und Rachaels Wohnung für einen ordentlichen Betrag upsmarten lassen, Clara leistete wunderbare Dienste, der Kaffe war stets pünktlich und frisch gekocht, die Stromkosten waren im Vergleich zu früheren Abrechnungen ohne Clara um 23% niedriger, die Angst vor Einbrüchen oder gar Überfällen in den eigenen vier Wänden war ohnehin seit Jahren stark abgeschwächt worden. Am angenehmsten jedoch empfand Jack die Tatsache, dass Clara die Temperatur in der Wohnung perfekt einzustellen vermochte. Wenn Jack sich abends im Wohnzimmer einen Klassiker ansah, so betrug die Raumtemperatur stets 19°C, während Rachael im Nebenzimmer noch ihre Heimarbeit durchging und bei, für Jack unerträglichen, 24°C schwitzte.
Wenn das kein Argument für ein Upsmarting war, dann berichtete Jack gerne von der Fußbodenheizung, die so fein abgestimmt war, dass nicht der ganze Boden zugleich erwärmt wurde, sondern nur die Bereiche, auf denen Jack oder Rachael entweder gerade standen oder die sie im Begriff waren zu überqueren. Upsmarting sei Dank analysierte Clara nämlich im Bruchteil einer Sekunde das Vorhaben und jede Bewegung ihrer Herren und berechnete alles im Voraus: wann welche Fließe warm sein musste, wie viel Grad die Raumtemperatur in welchem Zimmer zu welcher Zeit auch immer zu sein hatte, wie viel Wasser nötig war um Geschirr zu spülen oder menschliche Ausscheidungen in die Kanalisation zu befördern.
All dies begrüßte Jack. Es sparte nicht nur einen Haufen Geld, da alles genau Kosten-/Nutzeneffizient berechnet war, sondern erleichterte auch das alltägliche Leben. Auch fühlte Jack sich nicht mehr alleine, selbst wenn Rachael wieder Überstunden zu leisten hatte, wartete wenigstens Claras angenehme Stimme daheim auf ihn um ihn nach seinem Tag und Befinden zu fragen.
Aber es bestand ein großer Unterschied zwischen einer sprechenden und intelligent handelnden Wohnung und einem Menschen, der sich selbst mit einem Computer und dem Internet physisch sowie psychisch verbunden hatte. Jedenfalls war das für Jack ein unheimlicher Unterschied. Zwar hatte auch Jack ein Implant – das war seit einem Jahr vor seiner Volljährigkeit staatlich verordnet worden. Wäre Jack früher geboren, hätte er noch die Möglichkeit gehabt, die Implantation für eine Übergangszeit von drei Jahren aussetzen zu können, doch erleichterte der winzige Chip unter Jacks rechter Handoberfläche den Alltag ebenfalls in positiver Weise. Wenn er daran zurück dachte, damals, als er noch ein pubertierender junger Kerl gewesen war, wie unsicher er sich stets gefühlt hatte, wie verängstigt. Er war zwar schon immer ziemlich groß gewesen, doch die Muskeln hatten sich erst später ausgebildet – Jack hatte mit einem eisernen Fitnessprogramm und spezieller Protein-Ernährung nachgeholfen, nachdem seine erste Freundin ihn aufgrund seiner unmännlichen physischen Erscheinung auf einer Party bloßgestellt hatte.
Davor war er einfach nur ein dürrer langer Kerl gewesen und die Bullys auf der Dickson High hatten ihn beinahe täglich um sein Essensgeld erleichtert. Und selbst wenn er nach der Schule nachhause fuhr und schon kein Bares mehr in den Taschen hatte, war das immer noch keine Garantie dafür gewesen, nicht auch im Bus oder an einer dunklen Straßenecke überfallen und ausgeraubt zu werden.
Seit jeder Bürger gechipt worden war und man das Bargeld abgeschafft hatte, waren Verbrechen wie Diebstahl, Steuerhinterziehung und Geldfälscherei quasi nicht mehr existent. Gut, es wurde weiterhin geraubt, vor allem Luxusgüter oder Lebensmittel, aber das beinahe ausschließlich von Menschen, die kein Implantat hatten und somit schwerer zu tracken und zu überführen waren. Wer sich solch einem Menschen freiwillig näherte, der verdiente es auch nicht anders als beraubt zu werden. Leute ohne Implantat waren die Ausgestoßenen der modernen Gesellschaft. Früher einmal hatte es in den großen Städten viele Obdachlose und Drogenkranke gegeben. Man hatte sie unschwer erkennen und gar erriechen können; menschlicher Abschaum. Solche Individuen waren nach Einführung der Implants entweder in Arbeitslager gesteckt oder anderweitig verlegt worden.
Eine Zeit lang hatte Jack dieses Vorgehen verurteilt und bei seiner Chipung hatte er sich auch nicht unbedingt wohl gefühlt. Doch die Vorteile überwogen mit den Jahren deutlich. Die Städte waren einfach viel sauberer und sicherer. Nirgends sah man mehr solche abgerissenen, widerlichen Gestalten wie zu Zeiten von Jacks Kindheit. An den Schulen gab es immer noch Bullys, aber das war nichts im Vergleich zu seiner Schulzeit. Der Heimweg von den Arbeitsstellen, Universitäten oder Kulturzentren war auch bei Dunkelheit sicher; es kam nur noch ganz selten vor, dass sich ein Nimp – so bezeichnete man die Menschen, die außerhalb der Gesellschaft lebten und nicht gechipt waren – in die Ballungszentren der großen Städte stahl und dort sein Glück versuchte an biogenes Essen oder teure Wertgegenstände zu gelangen. Jack erinnerte sich wirklich nicht mehr, wann er zuletzt einen Nimp, außer in den Medien, gesehen hatte. Auch erinnerte er sich kaum noch an den typischen Geruch und Lärm der Stadt von vor etwa zwanzig Jahren. Die schwere, beinahe ölige Luft mit ihrem Smog und dem unaufhörlichen Hupen und Dröhnen abertausender Autos. Wagen mit Verbrennungsmotor gab es heute nur noch für Spektakel wie die Nascar, auf Retro-Conventions oder aber außerhalb der Städte im Schwereinsatz in Gas- oder Kobaltminen. Dort gruben sich gigantische Bagger durch das Erdreich und trugen die tiefvergrabenen Schätze der Welt zutage, die für die Herstellung all jener modernen Technik benötigt wurden, welche das Leben auf der Welt in zwei Lager teilte: die sterilen und futuristischen Städte und das durch Fracking pockennarbige und von Wanderarbeitern und Nimps bevölkerte Umland.
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