Modernen Gehirnforschern gelingt es zwar, Wahrnehmungen einer Testperson mit bestimmten Aktivitäten und Frequenzmustern im Gehirn zu korrelieren. Daraus aber Entscheidendes über das Wesen des Bewusstseins abzuleiten, scheint weiterhin unmöglich. Léonard kombiniert seine eigenen Erfahrungen mit Ergebnissen der Neurowissenschaften im Abschnitt Neurophilosophie.
Vom heiligen Franziskus wird erzählt, er hätte mit den Tieren sprechen können, ähnliches wird von Indianern überliefert. Léonards Erinnerungen an »Kommunikation« mit Schmetterlingen werden dabei wach, die damals beim Zelten an einem wilden Bergbach begannen, mit ihm zu »spielen« und sich immer wieder auf ihm niederließen.
Später, in Rajneeshpuram, einem ziemlich magischen Ort, ist er einmal zwei amselartigen Vögeln in einen etwas abseits gelegenen Sumpf gefolgt, die sich durch ihr Gezwitscher und aufgeregtes Umherfliegen bemerkbar gemacht hatten. Da stand er dann im übermannshohen Schilf im knöcheltiefen Wasser und wusste nicht mehr weiter. Die beiden »Lockvögel« neben ihm in fast greifbarer Distanz ruhig wartend, doch wieder loskreischend, sobald sich Léonard in irgendeine Richtung zu bewegen begann. Nach einigem Rätseln kauerte er sich nieder – da waren sie, etwa ein halbes Dutzend frisch geschlüpfte Wollbällchen, die zwischen den Schilfrohren umherflitzten. Tief berührt und unbehelligt durfte Léonard daraufhin den Schilfplatz verlassen. Solche Erlebnisse waren für Léonard deutliche Bestätigungen für die Richtigkeit seines Weges.
C. G. Jung{15} hat den Begriff der Synchronizität geprägt für zeitlich korrelierende Ereignisse, welche zeitnah aufeinander erfolgen, aber nicht kausal miteinander verknüpft sind. Während ein »Normalbewusstsein« solche Begebenheiten als Zufallabhakt, bekommen sie für Suchende eine äußerst wertvolle Bedeutung, denn die Zunahme der Häufigkeit solcher Synchronizitäten bestärken sie in der Korrektheit ihres Tuns.
Aus dem Zenstammt die uralte Übung des Atemzählens, das völlig unabhängig vom jeweiligen Zeitgeist bleibt. Normalerweise bereitet es keine großen Schwierigkeiten, diese Übung in ihren einfachen Formen auszutricksen. Léonard hat das damals in seiner eigenen Meditationspraxisschnell begriffen: Atemzählen und gleichzeitig den Gedanken nachhängen, war nicht wirklich schwierig. Das Zählen passierte völlig automatisch und benötigte kaum Aufmerksamkeit. Das änderte sich erst, als er begann rückwärts zu zählen oder noch wirksamer im hexadezimalen Zahlensystem dem Atem folgte. Dass es Léonard gelang, eine ganze Zazen-Sitzung hexadezimal fehlerfrei durchzuzählen, war der eine Punkt, aber im warmen Bett liegend wach dem Atem ebenso zu folgen, erwies sich als außerordentliche Herausforderung. Welch Wohlgefühl, nachdem auch dies endlich gelang! Nur gibt es leider innerhalb der Bewusstseinsentwicklung kein Ausruhen auf den Lorbeeren, die fehlerfreie Sitzung heute bedeutet keineswegs ein Gelingen morgen, denn auf dem Spiegel setzt sich permanent Staub ab.
2.5. Bewusstseinsmonitoring
Spirituell Suchende, welchen schon die Überschrift dieses Kapitels körperliches Unbehagen bereitet, sollten es einfach überspringen und ein paar weitere Jahre Vipassana oder Zazen üben. Vielleicht sind jedoch einige bereit, ihre bisherige spirituelle Praxis zu überprüfen und zu hinterfragen, dann könnte im Lesen dieses Kapitels echter Gewinn entstehen.
Léonard hat in verschiedenen Gruppen, Seminaren und Retreats erlebt, wie Leiter eine Klassifizierung der Teilnehmer vornahmen und diese auch publik machten. Lieblingsschüler kriegten sozusagen eine Eins, Rebellen und solche, die schlecht fassbar waren, eine Fünf. Einerseits war dies auch bei Léonard mit unangenehmen Gefühlen von Bevorzugung oder Abwertung verbunden, andrerseits war es aber durchaus wichtig für ihn zu wissen, wie es jeweils um ihn stand, und um die eigene Bewusstseinsentwicklung ermessen zu können. Wie leicht suggeriert das Ego, man stünde kurz vor der Erleuchtung und erhält dann postwendend vom Lehrer die unbedingte Empfehlung, ein Seminar mit dem vielsagenden Namen «Fresh Beginning» zu besuchen…
Auch das beliebte Chakra- und Auralesen könnte über Bewusstsein Aufschluss geben, doch wie soll beurteilt werden, ob das, was über die Farben und die Ausdehnung der Aura dargelegt wird, überhaupt stimmt? Lässt es sich in einer anderen Umgebung reproduzieren und hat es überhaupt irgendwelche Relevanz?
In spirituellen Kreisen ist bekannt, dass nur das höhere Bewusstsein dasjenige weniger entwickelte erkennen kann, keinesfalls jedoch umgekehrt! Wenn einzig der Papst unfehlbar ist, wie sollte denn ein Nicht-Papst dessen Unfehlbarkeit beurteilen können? Nur der Erwachte kann den Erwachten erkennen und so bleibt den Jüngern nur das blanke, blinde Vertrauen; Pech für diejenigen, welche an einen Scharlatan geraten.
Jeder Leichtathlet kann seine jährlichen Fortschritte quantitativ erfassen (Leichtathletinnen auch!). Die Jünger Maharishishaben Wettkämpfe in Levitation{16} und anderen Disziplinen veranstaltet und viel Hohn und Spott geerntet. Ein Wettlauf »auf dem Wasser« über 10 m, 100 m oder 1 km wäre wohl einfacher zu quantifizieren, doch fände man dafür auch Teilnehmer? An Feuerlaufen haben wir uns inzwischen gewöhnt und ein Tarot kann durchaus Aufschluss über das aktuelle Befinden geben. Das Transzendieren der Sexualität war immer schon ein Zeichen für fortgeschrittenes Bewusstsein, wie aber soll es von Unterdrücken von Sex zu unterscheiden sein?
Es gibt also durchaus Indikatoren des Bewusstseins, die quantitativ erfassbar sind und als Test für die Fortschritte verwendet werden könnten. Praktisch alle Checks des Bewusstseins bedingen allerdings das vorbehaltlos ehrliche Zusammenwirken der Beteiligten, ein Ego, das in das Experiment hineinspielt, kann leicht zu fatalen Illusionen führen.
Léonard ist sich bewusst, dass er hier ein spirituelles Tabu tangiert. Eine Quantifizierung ermöglicht den verpönten Vergleich, der wiederum immer das Ego stärkt, welches immer darauf aus ist, die ziellosen Ziele, die torlosen Tore und die weglosen Wege zu überlisten und so den wunschlosen Wunsch nach Erleuchtung strategisch zu umgehen.
Léonard hält nichts von alledem, es geht ihm um eine – fast –wertfreie Standortbestimmung. Das Ego bleibt das immanente Problem, die Suchenden mögen es drehen und wenden, wie sie wollen. So zu tun, als gäbe es das Ego (oder Erleuchtung) nicht, ist die Verdrängung von etwas, das wie Pech an den Suchenden klebt und das Ego stärkt und die Öffnung des Bewusstseins per se verhindert.
Léonard hat sich ein kleines elektronisches Gerät ausgedacht und entwickeln lassen, welches er Respicoach{17} nannte, das auf der Zen‘schen Atemzählmethode basierte und Bewusstseinsentwicklungen quantitativ aufzeigen konnte. Erste Feldversuche mit dem kleinen Gerät eröffneten völlig neue Perspektiven, Abweichungen von der Idealform der Atemkurven konnten hoch signifikant mit störenden Gedankenimpulsen korreliert werden. Eine Weiterentwicklung wird die Auswertung auf Smartphones übertragen und den BQ (Bewusstseinsquotienten) einer Versuchsperson aus den gemessenen Atemzyklen berechnen können.
Das Bewusstseinsmodell, das van Grippe bisher dargelegt hat, ist der entscheidenden Frage, was denn das »Bewusstsein« nun eigentlich ist, mehr oder weniger elegant aus dem Weg gegangen. Hier wird sich Léonard eben doch outen müssen:
Bewusstsein ist das, was »wahr nimmt«. Mit all seinen Sinnesorganen nimmt der Mensch wahr. Alles, was wahrgenommen wird, ist wahr. Und Wahrheit ist das, was im Laufe des Lebens wahrgenommen wurde. Léonard nennt das, was wahrnimmt, wenn das Egovon einem Individuum vollständig abgefallen ist, reines Bewusstsein. Erfahrungsgemäß kann ein solches Eintauchen in reines Bewusstsein jedem Menschenwesen spontan passieren – allenfalls auch mit Hilfe geeigneter Drogen– und bleibt meist als außergewöhnliches, schwer deutbares und noch schwerer zu vermittelndes Ereignis für eine lange Zeit in Erinnerung.{18} Viele Beschreibungen solcher Erlebnisse sind von Mystikern überliefert, im Internet und an anderen Orten zu finden. Vier typische Berichte hat der Autor im Anhangübernommen. Gemeinsam ist all diesen Schilderungen, die je nach Tradition auch als Satori, Kensho, Erwachenserfahrung,aber auch Flowu.a.m. bezeichnet werden, dass sich jegliche persönlichen oder weltlichen Fragen erübrigen, weil der Verstand zum Stillstand kommt. Dieser Zustand, der u. a. auch bei Nahtoderfahrungen auftritt, dauert üblicherweise nur eine kurze Zeitspanne an. Wenige Menschen sind in der Lage in dieser Situation »bloß« wahrzunehmen. Der ständige Gedankenflussund der permanente Versuch, alles Wahrgenommene zu analysieren und zu klassifizieren, ist für die allermeisten Zeitgenossen notorisch und verhindert ein Verharren in diesem Bewusstseinszustand.
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