Das, was für religiöse Menschen »Gott« bedeutet, wird in dem Bemühen, sich des persönlichen Aspektes Gottes zu entledigen und dennoch die hohe Wirksamkeit dieser Kraft zu berücksichtigen, in esoterischen und neoreligiösen Zusammenhängen häufig einfach nur »Energie« genannt. Auch »Schwingung« – vor allem höhere Schwingung – ist eine übliche Bezeichnung.
Léonard möchte hier auf einige physikalische Hintergründe hinweisen und greift dabei auf eine je nach Vorbildung mehr oder weniger verständliche Formelsprache zurück: Sonnenlicht beispielsweise ist physikalisch gesprochen eine elektromagnetische Welle, also eine Schwingung. Deren Frequenz ν ist dabei ein Maß, wie häufig eine Schwingung einen Wellenberg und ein Wellental durchläuft. Wenn die Frequenz wächst, nimmt im gleichen Ausmaß die Energie E zu. Diese Beziehung zwischen Energie und Frequenz lautet:
E = h * v
h ist dabei eine Proportionalitätskonstante – die sog. Plancksche Konstante – und hat einen sehr, sehr kleinen Wert. Seit Einstein kennen wir aber auch den Zusammenhang zwischen Energie und Masse:
E = m * c2
Energie ist der Masse äquivalent. Trivial ausgedrückt gehören Energie und Materie zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Die beiden Gleichungen sehen ähnlich aus, In der unteren Gleichung hat die Lichtgeschwindigkeit c einen immens hohen Wert. Der Physiker de Broglie setzte um 1930 beide Formeln gleich und kreierte damit die sogenannten Materiewellen. Er postulierte, dass jedes Materieteilchen sich zugleich wie eine elektromagnetische Welle und jede elektromagnetische Welle sich auch wie ein Materieteilchen verhält:
h * v = m * c2
Mit dieser Formel lässt sich für jedes Materieteilchen seine Schwingungsfrequenz berechnen. Tönt doch ganz esoterisch: Alles ist Schwingung! Und doch reine, klassische Physik!
Erwin Schrödinger, der berühmte Quantenphysiker, hat daraus die Wellengleichungen für das einfachste Atom – Wasserstoff –entwickelt. Viele Ungereimtheiten des früheren Bohrschen Modells konnten mit dem neuen wellenmechanischen Atommodell geklärt werden und die von ihm entworfenen mathematischen Funktionen behielten ihre Gültigkeit auch für größere Atome und Atomverbände. Erstaunlich, dass jede einzelne dieser Funktionen bis in alle Unendlichkeit reicht! Esoterische Aussagen wie »Alles ist Schwingung« oder »Alles ist mit allem verbunden« haben so in der modernen Quantentheorie ihre Entsprechung gefunden.

Abbildung 4: Dreifaltigkeit Abbildung 5: »Einstein«
Einstein hat mit seiner Gleichung noch eine weitere Beziehung entdeckt, die für Léonard nichts weniger als die lange gesuchte Brücke zwischen Wissenschaftund (christlicher) Religiondarstellt (vgl. Abb. 4 und 5). Die beiden Disziplinen verwenden selbstverständlich ihre eigene Sprache:
Die Ähnlichkeit der Begriffe Gott und Energie in dieser Anordnung ist augenfällig. Was Energie oder Gott wirklich sind, zeigt auch diese Darstellung nicht. Energie ist nur an den Erscheinungsformen und Auswirkungen zu erkennen: Wärme, Licht, elektrische oder mechanische Energie usw. Und Gott?
Der fleischgewordene, menschlichste aller Söhne, der auf Erden wandelte, Jesus Christus, symbolisiert die Materie. Der Heilige Geist ist in seiner Beschaffenheit nicht weit entfernt vom Licht. Wo die katholische Kirche vom ewigen Licht spricht, verwendet die Physik das Symbol c der Lichtgeschwindigkeit. Wo bleibt da der Sinn der seit Jahrhunderten gepflegten gegenseitigen Abgrenzung?
Überwältigende Erfahrungen können nahtlos in mystische Erlebnisse übergehen, etwa so wie sie der 2017 verunglückte Extrembergsteiger Ueli Steckim Anhang schildert. Dies ist vielleicht der wahre Antrieb, warum viele spirituell Suchendeso fasziniert sind von ihren eigenen inneren und äußeren Erfahrungen. Gibt es für den Menschen überhaupt so etwas wie Nichterfahrung? Jede sinnliche Wahrnehmungist doch Erfahrung und Erleben. Bewusst wahrgenommene Erfahrungen können über längere Zeiträume als Erinnerung zurückgerufen werden, die unbewussten Inhalte dagegen gehen verloren. Verblüffenderweise gelingt es z. B. in der Hypnose, Erinnerungen bis zur Geburt ins Alltagsbewusstsein zurückzurufen.
Bewusste Wahrnehmung schafft somit Bewusstheit, unbewusste Wahrnehmung schafft Unter- oder Unbewusstheit. Die Ursache dieser Aufteilung des Bewusstseins liegt alleine im Gedankenflussund/oder dem Gefühlsstrom. Je intensiver der Gedankenfluss oder Gefühlsstrom, desto mehr Erfahrungsinhalte gehen im Unbewussten verloren. Kommen aber der Gedankenfluss und der Gefühlsstrom zum Versiegen, geht jedes Erleben in das eine, allumfassende Bewusstsein ein.
Diese ultimative Erfahrung tritt im Allgemeinen völlig überraschend und überwältigend ein. Sie ist meist mit höchsten Glücksgefühlen verbunden. Aus für Léonard unerfindlichen Gründen scheinen nur wenige Mitmenschen diese Erfahrung in ihrem irdischen Dasein machen zu können. Menschen der unterschiedlichen Kulturen sprechen allerdings davon als mystische Erfahrung, Erleuchtung, Einheit, Bliss Attack, Paradies, Erwachen, Samadhi, Erlösung, ultimative Freiheit, Ewiges Leben, Nomind, Leere, Moksha, Turiya, Nirwana und anderes mehr.
Alle diese Begriffe deuten auf den gleichen höchsten – gleichzeitig natürlichen – menschlichen Bewusstseinszustandhin. Die Vielfalt der weltweit existierenden Bezeichnungen für diesen einen Bewusstseinszustand verdeutlicht, dass er zu allen Zeiten und in allen Kulturen von einzelnen Menschen erreicht wurde. Warum sollte er dem aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts verschlossen bleiben?
Auch wenn die Geschichte aus der Genesis, nämlich die Vertreibung aus dem Paradies, wörtlich genommen wird, sollte die Rache nicht länger auf Frauen und Schlangen gerichtet bleiben. Das Geschehnis beschreibt die Situation der Menschen, wie sie sich heute und offensichtlich auch schon vor 5000 Jahren präsentierte: Die Menschheit personifiziert von Adam und Eva hat wohl gelernt, das Gute vom Bösen zu unterscheiden und ist fast wie Gott geworden, doch das Glück des Paradieses ging verloren. Leiden, Krankheit, Stress und Unzufriedenheit sind das direkte Ergebnis der Erkenntnis, die im Apfel lag.
Dieser Wendepunkt, das Verlassen des Paradieses, war die Geburt des Individuums mit seinem Ego. Dies ist die harte Nuss, die Generationen um Generationen von intelligenten und mit großer Hingabe nach Erkenntnis strebende Suchende und Gläubige meist vergeblich zu knacken versuchten. Warum offensichtlich fast alle gescheitert sind, kann auch Léonard nicht schlüssig beantworten. Der Ausruf des unschuldigen Mädchens in Andersens{32} Märchen »Des Kaisers neue Kleider«, der die Nacktheit des Herrschers arglos entlarvt, verhallt in spirituellen Belangen leider meist ungehört.
So wird der höchste aller menschlichen Bewusstseinszustände benannt, dieses ultimative Ziel, dessen vermeintliche Unerreichbarkeit so viele Suchende auf ihrem Weg resignieren lässt. Das simple Wort »Erleuchtung« kann im entsprechenden Umfeld zu einem fast anstößigen Reizwort mutieren; »Erwachen« ist dann bedeutend unbelasteter. Adyashanti{33}, ein spiritueller Lehrer aus den USA, unterscheidet diese beiden Begriffe klar: »Erwachen« ist der zeitlich begrenzte Zustand, »Erleuchtung« der permanente. Bewusstseinsmässig macht er keine Unterschiede. Allerdings handelt der Erwachte aus der Erinnerung, der Erleuchtete aus dem Moment.
Eine überwältigende Einheitserfahrung, ein erstes Erwachen führten zu Léonards intensivster Lebensphase: Sein spiritueller Weg mit Erwachenserlebnissen von längerer und kürzerer Dauer. In einem subtilen Lernprozess erkannte Léonard im Laufe der Jahre, dass der geringste Widerstand gegenüber dem, was ist, oder jeglicher Versuch einer Reflexion über diese Erfahrung das unmittelbaren Herausfallens aus diesem Zustand herbeiführten. »Stillness of the Mind«, wie der Inder sagt, ist das einzige Rezept, im Nirwana, Samadhi oder ewigen Reich Gottes dauernd zu verbleiben!
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