sie, die Augen unter sehnsuchtsvollen Erinnerungen geschlossen; der Herr
kaiserliche Leibarzt wartete gespannt, was sie wohl sagen werde.
Dann girrte sie plötzlich heiser mit gespitzten Lippen.
"Brussi, Brussi!" – – und breitete die Arme aus.
Von Grauen geschüttelt, prallte der Herr kaiserliche Leibarzt zurück und
starrte sie entsetzt an.
Sie achtete nicht darauf, stürzte zu einem Wandbrett, riß ein Bild – ein altes,
verblichener Daguerreotyp –, das dort inmitten vieler anderer stand, an sich
und bedeckte es mit glühenden Küssen.
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt stockte fast der Atem: Er erkannte sein
eigenes Konterfei, das er ihr vor wohl vierzig Jahren geschenkt hatte.
Dann stellte sie es behutsam, voll Zärtlichkeit wieder zurück, hob verschämt
mit spitzen Fingern den zerlumpten Rock bis zum Knie und tanzte, den Kopf
mit dem wirr zerzausten Haar wie in wollüstigen Träumen wiegend, eine
gespenstische Gavotte.
Der Herr kaiserliche Leibarzt stand wie gelähmt; das Zimmer drehte sich vor
seinen Augen; "Danse macabre", sagte etwas in ihm, und die beiden Worte
tauchten in kraus geschnörkelten Buchstaben als Unterschrift zu einem alten
Kupferstich, den er einst bei einem Antiquar gesehen, wie eine Vision vor ihm
auf.
Er konnte den Blick nicht von den skelettartigen dürren Beinen der Greisin
wenden, die in schlottrigen, grünlich schimmernden schwarzen Strümpfen
staken – er wollte im Übermaß des Grausens zur Tür fliehen, aber der
Entschluß entfiel ihm, noch ehe er gefaßt war. Die Vergangenheit verband sich
mit der Gegenwart in ihm zu einem inneren und äußeren Bannbild
schreckhafter Wirklichkeit, dem zu entrinnen er sich ohnmächtig fühlte; er
wußte nicht mehr: War er selbst noch jung und hatte sich die, die da vor ihm
tanzte, urplötzlich aus einem soeben noch schönen Mädchen in ein
leichenhaftes Scheusal mit zahnlosem Mund und entzündeten, runzligen
Lidern verwandelt – oder träumte er nur, und seine eigene Jugend und die
ihrige hatten in Wahrheit nie existiert?
Diese platten Klumpen in den grauschwarzen, schimmligen Überresten von
niedergetretenen Stiefeln, die da vor ihm im Takte sich drehten und hüpften –
konnten sie wirklich dieselben zierlichen Füßchen mit den zarten Knöcheln
sein, die ihn einst so verliebt gemacht und entzückt hatten?
"Sie kann sie jahrelang nicht ausgezogen haben, das Leder würde in Stücke
zerfallen sein. Sie schläft in ihnen", kam ein halber Gedanke flüsternd an
seinem Bewußtsein vorbei, wuchtig verdrängt von einem andern: "Es ist
furchtbar, der Mensch verwest in dem unsichtbaren Grabe der Zeit, noch
während er lebt."
"Weißt du noch, Thaddäus!" flötete die "böhmische Liesel" heiser und
krächzte eine Melodie:
"Du, du, du – bist so kalt
und machst allen so heiß,
zauberst Flammen hervor aus dem Eis."
Dann hielt sie, wie mit einem Ruck zu sich gekommen, inne, warf sich in
einen Sessel, krümmte sich, überwältigt von jäh ausbrechenden, namenlosem
Schmerz, zusammen und verbarg weinend ihr Gesicht in den Händen. – – –
Der kaiserliche Leibarzt erwachte aus seiner Betäubung, raffte sich auf,
gewann einen Augenblick Gewalt über sich und verlor sie gleich darauf
wieder. – Er erinnerte sich mit einemmal deutlich seiner unruhig
durchschlummerten Nacht und daß er denselben armen, verwitterten Körper
noch vor wenigen Stunden als blühendes junges Weib liebestrunken im Traum
in den Armen gehalten hatte, der jetzt, mit Lumpen bedeckt und von
Schluchzkrämpfen und Leid geschüttelt, vor ihm lag.
Er öffnete ein paarmal den Mund und schloß ihn wortlos wieder – wußte
nicht, was er sagen sollte.
"Liesel", brachte er endlich mühsam hervor, "Liesel, geht's dir so schlecht?"
– Er ließ seinen Blick durch die Stube schweifen und blieb mit den Augen an
dem hölzernen Suppennapf hängen, hm ja. – "Liesel, kann ich dir irgendwie
helfen?" Früher hat sie aus silbernen Tellern gegessen – schaudernd sah er zu
der schmutzstarrenden Lagerstätte hinüber – – hm, und – auf Daunen
geschlafen. – –
Der Alte schüttelte heftig den Kopf, ohne das Gesicht zu heben.
Der Herr kaiserliche Leibarzt hörte, wie sie ihr Wimmern hinter den Händen
verbiß.
Seine Photographie auf dem Wandbrett schaute ihm geradeaus ins Gesicht –
der Widerschein eines blinden Spiegels am Fenster warf einen schrägen
Lichtstrahl auf die ganze Reihe – lauter schlanke, junge Kavaliere, die er alle
gekannt hatte, manche jetzt noch kannte als steif und weiß gewordene Fürsten
und Barone – er selbst mit lachenden, lustigen Augen, in goldbetreßtem Rock,
den Dreispitz unter den Armen.
Schon vorhin, als er das Bild als das seinige erkannt hatte, war die Absicht in
ihm aufgestiegen, es heimlich zu entfernen; unwillkürlich machte er einen
Schritte darauf zu – schämte sich aber sofort seines Gedankens und blieb
stehen.
Schultern und Rücken der Alten bebten und zuckten noch immer vor
verhaltendem Weinen; er sah auf sie nieder, und ein tiefes, heißes Mitleid
ergriff ihn.
Er vergaß seinen Ekel vor ihrem schmutzigen Haar und legte ihr die Hand
vorsichtig auf den Kopf, als getraue er sich nicht recht – streichelte sie sogar
schüchtern.
Er schien sie sichtlich zu beruhigen, und sie wurde allmählich still wie ein
Kind.
"Liesel" – fing er nach einer Weile wieder, ganz leise, an – Liesel, schau,
mach dir nichts draus – na ja, ich mein, wenn's dir schlecht geht. – – Weißt d'"
– er suchte nach Worten – "na ja, weißt d', es is – es is halt Krieg. – Und – und
Hunger ham wir ja alle – jetzt im Krieg" – er schluckte ein paarmal verlegen,
denn er fühlte, daß er log; er hatte doch noch niemals Hunger gehabt – wußte
gar nicht, was das war; sogar frischgebackene Salzstangel aus weißem Mehl
wurden ihm jeden Tag beim "Schnell" heimlich unter die Serviette gesteckt. –
"No – und jetzt, wo ich weiß, daß dir's schlecht geht, brauchst d' dich
ieberhaupt nicht mehr sorgen, Liesel; es is ja von selbstverstehtsich, daß ich dir
hilf. – No – und der Krieg" – er trachtete, einen möglichst fröhlichen Ton in
seine Rede zu legen, um sie aufzuheitern – "er is ja vielleicht iebermorgen
schon 'rum – und dann kannst d' ja auch wieder deinem Verdienst – – –", er
brach bestürzt ab; es fiel ihm plötzlich ein, was sie war; überdies konnte man
in ihrem Falle doch kaum von "Verdienst" reden – "hm, ja – nachgehen",
schloß er den Satz halblaut nach einer kleinen Pause, denn er wußte kein
besseres Wort.
Sie haschte nach seiner Hand und küßte sie stumm und voll Dankbarkeit. –
Er fühlte ihre Tränen auf seine Finger fallen. "Geh, laß doch", wollte er sagen,
brachte es aber nicht heraus. Er blickte ratlos umher.
Eine Weile schwiegen beide. Dann hörte er, daß sie etwas murmelte,
verstand aber die Worte nicht.
"Ichichich dank'", schluchzte sie endlich, halberstickt, – ichich dank' dir,
Ping – –, ich dank' dir, Thaddäus. Nein, nein, kein Geld", fuhr sie hastig fort,
als er wieder davon anfangen wollte, er werde ihr helfen – "nein, ich brauch'
nichts" - sie richtete sich schnell auf und drehte den Kopf zur Wand, damit er
ihr schmerzverzerrtes Gesicht nicht sehen solle, hielt aber dabei seine Hand
krampfhaft fest, "es geht mir ja ganz gut. Ich bin doch so glücklich, daß du –
dich nicht vor mir graust. – Nein, nein, wirklich, mir geht's ganz gut. – – W–
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