Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.
"Er ist von dem Gartentor heruntergefallen", mischte sich der kaiserliche
Leibarzt schnell ein. "Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach
Ihnen geschickt. – – Wer und was er ist" – fuhr er krampfhaft fort, um zu
verhindern, daß sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, "tut ja nichts
zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch,
was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab' mir gleich gedacht, daß Sie wissen, was
das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel
achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn
jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Božena kann Ihnen dabei
behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?"
"Jaja. Nur hinaus mit ihm!" wimmerte Elsenwanger. "O Gott, nur fort, nur
fort."
"Ich weiß bloß, daß er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler
ist", sagte die "böhmische Liesel" ruhig. "Er geht des Nachts in den
Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er" – sie
schüttelte den Kopf – "ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner
herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine
Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So
kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, daß hier keine Gastwirtschaft ist?"
Sie ging zu dem Mondsüchtigen und faßte ihn an der Hand. –
Willenlos ließ er sich zur Tür führen.
Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus
seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein
Gang sicher und das normale Selbstbewußtsein halb und halb zurückkehrend –
trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle
seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.
Aber auch der hochfahrende Ausdruck des ägyptischen Königs war aus
seinem Gesicht ausgelöscht. Nur noch ein Schauspieler! – Eine Maske aus
Fleisch und Haut, jeden Augenblick zu einer neuen, unbegreiflichen
Veränderung gespannt – eine Maske, wie der Tod selbst sie tragen würde,
wenn er beschlösse, sich unter die Lebenden zu mischen – "das Antlitz eines
Wesens" – fühlte der kaiserliche Leibarzt, den wiederum eine dumpfe Furcht,
er müsse diesen Menschen schon einmal irgendwo gesehen haben, befallen
hatte, "eines Wesens, das heute der und morgen ein völlig anderer sein kann –
ein anderer, nicht nur für die Mitwelt, nein, auch für sich selbst – eine Leiche,
die nicht verwest und der Träger ist für unsichtbare, im Weltraum
umherirrende Einflüsse – ein Geschöpf, das nicht nur 'Spiegel' heißt, sondern
vielleicht wirklich – einer ist."
Die "böhmische Liesel" hatte den Mondsüchtigen aus dem Zimmer gedrängt,
und der kaiserliche Leibarzt benützte die Gelegenheit, ihr zuzuflüstern:
"Geh Sie jetzt, Lisinka; ich werd' Sie morgen aufsuchen. – Aber sprech sie
mit niemand drüber! – Ich muß Näheres über diesen Zrcadlo erfahren."
Dann blieb er noch eine Weile zwischen Tür und Angel stehen und horchte
die Treppe hinab, ob die beiden wohl miteinander sprechen würden, aber das
einzige, das er hören konnte, waren immer die gleichen beruhigenden Worte
des Frauenzimmers: "Kommen Sie, kommen Sie, Pane Zrcadlo! Sie sehen
doch, es ist kein Gasthaus hier!" –
Als er sich umdrehte, bemerkte er, daß die Herrschaften bereits ins
Nebenzimmer gegangen waren, sich am Spieltisch niedergesetzt hatten und auf
ihn warteten.
An den blassen, aufgeregten Gesichtern seiner Freunde sah er, daß ihre
Gedanken wahrlich nicht bei den Karten weilten und daß es wohl nur ein
herrischer Befehl der willensstarken alten Dame gewesen war, der sie
gezwungen hatte, ihre gewohnheitsmäßige abendliche Zerstreuung
aufzunehmen, als sei nicht das geringste geschehen.
"Das wird heute ein konfuser Whist werden", dachte er bei sich, ließ sich
aber nichts merken und nahm nach einer leichten, vogelartigen Verbeugung
der Gräfin gegenüber Platz, die mit nervös zuckenden Händen die Blätter
verteilte.
"Wie die Damoklesschwerter wären seit Menschengedenken die 'Flugbeile',
die alle kaiserliche Leibärzte gewesen waren – über Böhmens sämtlichen
gekrönten Häuptern gehangen, bereit, unverzüglich auf ihre Opfer
niederzufallen, sowie sich bei diesen auch nur die geringsten Anzeichen einer
Krankheit zeigen wollten." – war ein Sprichwort, das, auf dem Hradschin in
Adelskreisen gang und gäbe, eine gewisse Bestätigung darin zu finden schien,
daß mit dem Hinscheiden der Kaiserinwitwe Maria Anna tatsächlich auch das
Geschlecht der Flugbeile in seinem letzten Sprossen, dem Hagestolz Thaddäus
Flugbeil, genannt der Pinguin, dem Erlöschen geweiht war.
Das Junggesellenleben des Herrn kaiserlichen Leibarztes, genau geregelt wie
der Gang einer Uhr, hatte durch das nächtliche Abenteuer mit dem
Schlafwandler Zrcadlo eine unliebsame Störung erlitten.
Allerlei Traumbilder waren durch seinen Schlummer geschritten, und
schließlich hatte sich darin sogar der Schatten von schwülen Erinnerungen aus
der Jugendzeit verirrt, in denen die Reize der "böhmischen Liesel" – natürlich,
als diese noch schön und begehrenswert gewesen – eine nicht unwesentliche
Rolle spielten.
Ein neckisches, konfuses Gegaukel von Phantasien, in dem das ungewohnte
Gefühl, er halte einen Bergstock in der Hand, gewissermaßen den Glanzpunkt
bildete, weckte ihn schließlich zu ungebührlich früher Stunde.
Jedes Frühjahr, genau am 1. Juni, pflegte der Herr kaiserliche Leibarzt zur
Kur nach Karlsbad zu fahren und zu diesem Zwecke, da er die Eisenbahn
verabscheute, die er für eine jüdische Einrichtung hielt, eine Droschke zu
benützen.
Wenn Karlitschek, so hieß der isabellfarbige Klepper, der den Wagen ziehen
durfte, den eindringlichen Weisungen seines alten, rotbewesteten Kutschers
gemäß, den fünf Kilometer entfernten Prager Vorort Holleschowitz erreicht
hatte, wurde jedesmal die erste Nachtrast gemacht und am nächsten Tag die
dreiwöchentliche Fahrt in längeren oder kürzeren Etappen, je nachdem
Karlitschek, das wackre Roß, gelaunt war, fortgesetzt – in Karlsbad angelangt,
konnte sich's dann bis zur Rückreise an Hafer dick und rund fressen, bis es
einer rosabschimmernden Wurst auf vier dünnen Stelzbeinen glich, derweilen
der Herr Leibarzt sich selbst Bewegung per pedes verordnete. Das Erscheinen
der roten Datumsziffer 1. Mai auf dem Abreißkalender über dem Bette gab
sonst immer das Zeichen, daß es höchste Zeit sei, die Koffer zu packen, aber
diesmal würdigte der Herr kaiserliche Leibarzt den Block keines Blickes, ließ
den 30. April, der den schauerlichen Unterdruck "Walpurgisnacht" trug,
unberührt hängen, begab sich an seinen Schreibtisch, nahm einen ungeheuren
schweinsledernen, mit Messingecken verzierten Folianten vor, der schon von
seinem Urgroßvater an jedem männlichen Flugbeil als Diarium gedient hatte,
und begann unter den Aufzeichnungen seiner Jugendjahre nachzublättern, ob
sich nicht vielleicht auf diesem Wege feststellen lasse, ob, wann und wo er
dem unheimlichen Zrcadlo schon früher begegnet sei – denn der Gedanke, daß
dies der Fall sein müsse, quälte ihn unablässig. –
Seit seinem fünfundvierzigsten Jahre und von dem Datum angefangen, als
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