wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte
und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes
für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlag klar bewußt wurde, daß es
doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und daß statt ihrer jugendlichen
Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tisch stand.
–
Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als daß er sie
richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch
verdämmernde Gefühl in ihm zurück, daß die "Zeit" nichts als eine diabolische
Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen
Gehirn vorgaukelt.
Nur die einzige Furcht blieb ihm als Ernte: daß er blitzartig mit dem inneren
Empfinden einen Moment lang begriffen hatte – was er früher niemals richtig
zu verstehen fähig gewesen war –, nämlich die seltsamen befremdlichen
Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der
Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben
unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.
Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, daß er sagen mußte:
Wasser bringen! Verbandzeug! – daß er sich wieder, wie damals, herabbeugte
und nach den Aderlaßschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter,
längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.
Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden
Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten, weißen Schenkel Boženas
fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien
Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um
besser sehen zu können – kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: Das Bild der
Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze
zwischen blühendem jungen Leben, der Totenstarre des Bewußtlosen, den
schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten
Zügen der Gräfin wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.
Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den
Boden, und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des
Verunglückten, der – die Lippen unter dem Einfluß der Ohnmacht aschfarben
und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen – eher
der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.
"Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!" rief das Dienstmädchen und zog – wie
unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge
des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen – züchtig
ihren Rock über die Knie.
"Wer ist's?" fragte die Gräfin erstaunt.
"Der Zrcadlo – der 'Spiegel'", erklärte der Kammerdiener, den Namen
Zrcadlo aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, "mir nennt ihn so
hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt. –
Er ise sich Aftermeister bei der – –" er stockte verlegen, "bei der – no, halt bei
der 'böhmischen Liesel'."
"Bei wem?"
Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige
Gesinde verbiß mühsam das Lachen. Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:
"Bei wem, will ich wissen!"
"Die 'böhmische Liesel' war in früheren Jahren eine berühmte – – Hetäre",
nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der
bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte.
"Ich wußte gar nicht, daß sie noch lebt und sich auf dem Hradschin
herumtreibt; sie muß ja uralt sein. Sie wohnt wohl – –" – – "in der Totengasse,
da, wo die schlechten Madeln alle beisamm' sind", bekräftigte Božena eifrig.
"So geh sie das Frauenzimmer holen!" befahl die Gräfin. Dienstbeflissen
eilte das Mädchen hinaus.
Inzwischen hatte sich der Mann aus seiner Betäubung erholt, starrte eine
Weile in die Kerzenflammen und stand dann langsam auf, ohne die geringste
Notiz von seiner Umgebung zu nehmen.
"Glaubt ihr, daß er hat einbrechen wollen?" fragte die Gräfin halblaut das
Gesinde.
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf und tupfte sich vielsagend auf die
Stirn, um anzudeuten, daß er ihn für wahnsinnig halte.
"Meines Erachtens handelt es sich um einen Fall von Schlafwandeln",
erklärte der Pinguin. "Solche Kranke pflegen bei Vollmond von einem
unerklärlichen Wandertrieb befallen zu werden, in dem sie dann, ohne sich
dessen bewußt zu sein, allerhand seltsame Handlungen begehen, Bäume,
Häuser und Mauern erklettern und oft auf den schmalsten Stegen und in
schwindelnder Höhe, zum Beispiel auf Dachrinnen, mit einer Sicherheit
einherzuschreiten, die ihnen bestimmt mangeln würde, wenn sie wach wären. –
– Holla, Sie, Pane Zrcadlo", wandte er sich an den Patienten, "glauben Sie,
sind Sie jetzt so weit bei sich, daß Sie nach Hause gehen können?"
Der Mondsüchtige gab keine Antwort; trotzdem schien er die Frage gehört,
wenn auch nicht verstanden zu haben, denn er drehte langsam den Kopf nach
dem kaiserlichen Leibarzt und blickte ihm mit leeren, unbeweglichen Augen
ins Gesicht.
Der Pinguin fuhr unwillkürlich zurück, strich sich ein paarmal nachdenklich
über die Stirn, als stöberte er in seinen Erinnerungen, und murmelte: "Zrcadlo?
Nein. Der Name ist mir fremd. – Aber ich kenne diesen Menschen doch! – Wo
hab' ich ihn nur gesehen?!"
Der Eindringling war hochgewachsen, hager und dunkelhäutig; langes,
trockenes, graues Haar hing ihm wirr um den Schädel. Das schmale, bartlose
Gesicht mit der scharfgeschnittenen Hakennase, der fliehenden Stirn, den
eingesunkenen Schläfen und dem verkniffenen Lippen, dazu die Schminke auf
den Wangen und der schwarze, abgetragene Samtmantel – alles das wirkte
durch die Schroffheit des Widerspiels, als habe ein wüster Traum und nicht das
Leben selbst diese Gestalt in den Raum gestellt.
"Er sieht aus wie ein Pharao der alten Ägypter, der die Verkleidung eines
Komödianten gewählt hat, um zu verbergen, daß seine Mumie unter der Maske
steckt", schoß dem kaiserlichen Leibarzt ein krauser Gedanke durch den Kopf.
"Unbegreiflich, daß ich mich nicht entsinnen kann, wo ich diesen doch so
auffallenden Zügen begegnet bin?"
"Der Kerl ist tot", brummte die Gräfin, halb für sich, halb zu dem Pinguin
gewendet, und studierte furchtlos und ungeniert, als handle es sich um die
Betrachtung einer Statue, in unmittelbarster Nähe durch ihre Lorgnette das
Antlitz des aufrecht vor ihr stehenden Mannes – "solche verschrumpelte
Augäpfel kann nur eine Leiche haben. – Mir scheint, er kann sie ieberhaupt
nicht bewegen, Flugbeil! – – – So fircht Er sich doch nicht, Konstantin, wie ein
altes Weib!" rief sie laut zur Speisezimmertür, in deren langsam sich öffnender
Spalte die bleichen, erschreckten Gesichter des Hofrats Schirnding und des
Barons Elsenwanger aufgetaucht waren, "kommen Sie doch beide herein, Sie
sehen ja: Er beißt nicht."
Der Name Konstantin wirkte wie eine seelische Erschütterung auf den
Fremden. Er zitterte einen Augenblick heftig von Kopf bis Fuß, und der
Ausdruck seiner Züge wechselte blitzartig gleich dem eines Menschen, der, in
unglaublicher Weise Herr seiner Gesichtsmuskeln, vor einem Spiegel Fratzen
schneidet. – Als seien die Nasen-, Backen- und Kinnknochen unter der Haut
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