sein Vater gestorben war, hatte er pünktlich jeden Morgen seine Erlebnisse –
genau wie einst seine seligen Vorfahren – eingetragen und jeden Tag mit
fortlaufenden Zahlen versehen. – Der heutige trug bereits die Ziffer 16.177. –
Da er nicht hatte wissen können, daß er Junggeselle bleiben und daher keine
Familie hinterlassen werde, hatte er – ebenfalls nach dem Vorbilde seiner
Ahnen – von Anfang an alles, was Liebesangelegenheiten betraf, durch
Geheimschrift und Zeichen, die nur er allein enträtseln konnte, für unberufene
Augen unlesbar gemacht.
Solcher Stellen gab es in diesem Buche rühmenswerterweise nur wenige; sie
verhielten sich hinsichtlich Häufigkeit des Vorkommens zur Zahl der ebenfalls
sorgfältig gebuchten, im Gasthaus "zum Schnell" verzehrten Gulasch etwa wie
1 zu 300.
Trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der das Diarium geführt war, konnte der
Herr Leibarzt keine Stelle finden, die auf den Schlafwandler irgendwelchen
Bezug gehabt hätte, und enttäuscht klappte er das Buch endlich zu.
Schon beim Blättern hatte ihn ein unbehagliches Gefühl beschlichen:
Während des Durchlesens der einzelnen Notizen waren ihm – zum erstenmal –
unwillkürlich zu Bewußtsein gekommen, wie unsäglich eintönig, im Grunde
genommen, seine Jahre dahingeflossen waren.
Zu anderen Zeiten hätte er es wie Stolz empfunden, sich eines Lebens, so
regelmäßig und abgezirkelt wie das kaum eines der exklusivsten Hradschiner
Adelskreise rühmen zu können, und daß auch seinem Blute – trotzdem es nicht
blau und nur bürgerlich war – jegliche Hast und jegliche plebejische
Fortschrittsgier seit Generationen abhanden gekommen sei – – mit einemmal
kam es ihm aber jetzt unter dem noch frischen Eindruck des nächtlichen
Geschehnisses im Hause Elsenwanger vor, als wäre ein Trieb ihn ihm erwacht,
für den er nur häßliche Namen finden konnte. Namen wie: Abenteuersucht,
Unbefriedigtsein oder Neugierde, unerklärlichen Vorgängen nachforschen zu
wollen und dergleichen mehr.
Befremdet sah er sich in der Stube um. Die schmucklosen, weißgekalkten
Wände störten ihn. Früher hatten sie ihn doch nie gestört! – Warum plötzlich
jetzt?
Er ärgerte sich über sich selbst.
Die drei Zimmer, die er bewohnte, lagen im südlichen Flügel der königlichen
Burg, die ihm die k. k. Schloßhauptmannschaft, als er pensioniert worden war,
angewiesen hatte. Von einer vorgebauten Brüstung aus, in der ein mächtiges
Fernrohr stand, konnte er hinab in die "Welt" – nach Prag – sehen und
dahinter, am Horizont, noch die Wälder und sanft gewellten grünen Flächen
einer Hügellandschaft unterscheiden, während ein anderes Fenster den oberen
Flußlauf der Moldau – ein silberig glitzerndes Band, das sich in dunstiger
Ferne verlor – als Aussicht bot.
Um seine wildgewordenen Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen, trat er
an das Teleskop und richtete es auf die Stadt, wobei er sich, wie es seine
Gewohnheit war, vom Zufall die Hand führen ließ.
Das Instrument vergrößerte in außerordentlichem Maße und hatte
infolgedessen nur ein winziges Gesichtsfeld, so daß dem Beschauer die
Gegenstände, auf die es gerichtet wurde, so dicht ans Auge gerückt erschienen,
als stünden sie in seiner unmittelbaren Nähe.
Der Herr kaiserliche Leibarzt beugte sich zur Linse nieder mit dem
unwillkürlichen, kaum gedachten, heimlichen Wunsche, einen
Schornsteinfeger auf einem Dache oder sonst irgendein glückverheißendes
Omen zu erblicken, fuhr aber gleich darauf mit einem Ausdruck des
Schreckens zurück.
Das Gesicht der "böhmischen Liesel" hatte ihn nämlich lebensgroß, hämisch
verzerrt und mit den wimperlosen Lidern blinzelnd, als sehe und erkenne sie
ihn gar wohl, angegrinst!
So schreckhaft und ungeheuerlich war der Eindruck gewesen, daß der Herr
Leibarzt an allen Gliedern zitterte und eine Weile bestürzt an dem Fernrohr
vorbei in den sonnendurchflimmerten Luftraum starrte, jede Sekunde gewärtig,
die alte Vettel leibhaftig und womöglich auf einem Besen reitend als Gespenst
vor sich auftauchen zu sehen.
Als er sich schließlich aufraffte – zwar voll Staunens darüber, wie seltsam
der Zufall gespielt hatte, aber immerhin froh, sich die Sache ganz natürlich
erklären zu können – und wieder durch das Instrument blickte, war wohl die
Alte verschwunden, und nur noch fremde, ihm gleichgültige Gesichter zogen
an dem Sehfeld vorbei, aber es wollte ihm scheinen, als läge in ihren Mienen
eine seltsame Aufregung – eine Spannung, die sich auf ihn übertrug.
Er erkannte aus der Hast, mit der sie einander verdrängten, aus den
Gestikulationen der Hände, den eilfertig schwätzenden Lippen, aus den
zeitweilig weit aufgerissenen Mündern, die Schreie auszustoßen schienen, daß
ein Volksauflauf entstanden sein müsse, dessen Ursache sich jedoch wegen der
großen Entfernung nicht feststellen ließ. Ein kleiner Ruck, den er dem Fernrohr
gab, machte das Bild im Nu verschwinden, und an seine Stelle trat – zuerst in
verschwommenen Umrissen – ein viereckiges dunkles Etwas, das allmählich
beim Näherschrauben der Linse zu einem offenen Giebelfenster mit
zerbrochenen, mit Zeitungspapier verklebten Scheiben gerann.
Ein junges, in Lumpen gehülltes Weib, das Gesicht leichenhaft eingefallen
und verhärmt, die Augen tief in den Höhlen, saß in dem Rahmen und hielt den
Blick mit stumpfer vertierter Gleichgültigkeit unbeweglich auf ein skelettartig
abgemagertes kleines Kind gerichtet, das vor ihr lag und offenbar in ihren
Armen gestorben war. –
Das grelle Sonnenlicht, das die beiden umfing, ließ jede Einzelheit mit
grausamer Schärfe erkennen und vertiefte mit seinem jubelvollen
Frühlingsglanz den furchtbaren Mißklang zwischen Jammer und Freude bis zur
Unerträglichkeit.
"Der Krieg. Ja, der Krieg", seufzte der Pinguin und versetzte dem Rohre
einen Stoß, um sich durch den gräßlichen Anblick nicht unnötigerweise den
Appetit für sein Gabelfrühstück zu verderben.
"Der rückwärtige Eingang eines Theaters oder so etwas Ähnliches muß das
sein", murmelte er sinnend, als sich gleich drauf eine neue Szene vor ihm
abrollte: Zwei Arbeiter trugen, begafft von zahlreichen Gassenjungen und
knicksenden alten Weibern in Kopftüchern, aus einem gähnenden Tor ein
Kolossalgemälde, worauf ein Greis mit langem, in den Augen den Ausdruck
unsäglicher Milde und die Rechte segnend ausgestreckt, während die Linke
fürsorglich einen Globus umspannt hielt.
Wenig befriedigt und von widerstrebenden Gefühlen gequält, zog sich der
kaiserliche Leibarzt ins Zimmer zurück, nahm die Botschaft seiner Köchin,
"der Wenzel warte unten", wortlos entgegen, ergriff Zylinder, Handschuhe und
Elfenbeinstock und verfügte sich knarrenden Fußes die kühle Steintreppe hinab
in den Schloßhof, wo der Kutscher bereits mit dem Abbau des
Droschkendaches beschäftigt war, um die hohe Gestalt seines Herrn ohne
Anstoß im Inneren des Wagens verstauen zu können.
Die Karosse war so ziemlich den größten Teil der steilen Straßen
hinabgerasselt, als dem Pinguin plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoß,
der ihn veranlaßte, so lange an die klapprigen Fensterscheiben zu klopfen, bis
Karlitschek sich endlich bequemte, durch Steifmachen seiner isabellfarbigen
Vorderstelzen der Fahrt ein jähes Ende zu bereiten, und Wenzel vom Bock
sprang und mit gezogenem Hut an den Schlag trat.
Wie aus dem Boden gewachsen umdrängte sofort eine Schar Schulbuben den
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