plötzlich weich und biegsam geworden, verwandelte sich sein Mienenspiel aus
der soeben hochmütig dreinblickenden starren Maske eines ägyptischen
Königs, eine ganze Reihe sonderbarer Phasen durchlaufend, nach und nach in
eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Familientypus der Elsenwanger.
Kaum eine Minute später hatte eine gewisse bleibende Physiognomie sein
bisheriges Aussehen derart verdrängt und sich in seinen Zügen festgesetzt, daß
die Anwesenden zu ihrem größten Staunen momentelang glaubten, einen völlig
anderen vor sich zu haben.
Den Kopf auf die Brust gesenkt und die eine Wange wie von einer
Zahngeschwulst zum linken Auge, das darunter klein und stechend erschien,
emporgezogen, trippelte er eine Weile mit krummen Knien, die Unterlippe
vorstreckend, unschlüssig auf dem Tisch herum, tastete dann an seinem Körper
nach Taschen und wühlte scheinbar darin.
Endlich erblickte er den Baron Elsenwanger, der sich, sprachlos vor
Entsetzen, an den Arm seines Freundes Schirnding geklammert hielt, nickte
ihm zu und meckerte: "Konstantindl, gut, daß du kommst, den ganzen Abend
hab' ich dich schon gesucht."
"Jezis, Maria und Josef", heulte der Baron und floh zur Tür, "der Tod ist im
Haus. Hilfe, Hilfe, da ist ja mein seliger Bruder Bogumil!"
Auch der Edle von Schirnding, der Leibarzt und die Gräfin, die alle drei den
verstorbenen Baron Bogumil Elsenwanger bei dessen Lebzeiten gekannt
hatten, waren bei dem Ton der Stimme des Schlafwandlers zusammengezuckt,
so überaus ähnlich klang sie der des Verbliebenen.
Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig
im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die
offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige
Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine
Bewegungen, mit denen er sie anfaßte, hob und wegstellte.
Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte
und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig –
aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und
ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des
Eindrucks, daß sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die
Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier
gehaust hatte.
Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein
trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für
einen Augenblick zerstörte, faßte sie das Grauen an, und sie warteten stumm
und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.
Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer
unsichtbaren Dose schnupfte, rückte sodann einen der geschnitzten Sessel in
die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann,
vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er
vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte
– wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, daß
man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte. Mit angehaltenem
Atem sahen ihm die Herrschaften zu – das Gesinde hatte bereits vorher auf
einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen –; nur von
Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von
seinem "toten Bruder" den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.
Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich
einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel –
offenbar unter seinen Namenszug – setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl
zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich
einen – wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung,
sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloß auf, zog ein Fach heraus, legte
seinen "Brief" hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.
Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, daß niemand die
Stimme Boženas hörte, die draußen vor der Tür halblaut rief: "Milostpane!
Gnä' Herr! Dirfen wir herein?"
"Haben – haben Sie's gesehen? Flugbeil, haben Sie's auch gesehen? War das
nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?"
brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das
Schweigen; "ich hab' doch gar nicht geahnt, daß da eine Schublad ist."
Jammernd und die Hände ringend, brach er los: "Bogumil, um Gottes willen,
ich hab' dir doch nichts getan! Heiliger Václav, vielleicht hat er mich enterbt,
weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!"
Der kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein
lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.
Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im
Zimmer, die von Božena als die "böhmische Liesel" vorgestellt wurde.
Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch
immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte,
welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur
Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und
Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.
Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch
wiesen ihre Züge trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut die
Spuren einstiger großer Schönheit auf.
Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische
Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie
überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, daß ihr die Umgebung in
keiner Weise imponierte.
Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar
aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen
wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem
kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der
höflichen Frage zuvor:
"Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es
sich handelt?"
Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende,
wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und
musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der
Herren schloß sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre
Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher,
scharfer Gegenfragen:
"Dieser Mann dort" – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand
gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist
vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här' ich, bei Ihnen? –
Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – –?" – sie brachte das Wort
nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen,
packte sie wieder das Grausen. – "Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – – –
Ist er vielleicht krank?" milderte sie den Ausdruck.
Die "böhmische Liesel" zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der
Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu
schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren,
überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, daß der
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