Wagen und vollführte, als sie den Pinguin darin erblickte, seines Spitznamens
eingedenk, eine Art lautlosen Polarvogeltanz, wobei sie sich mit gekrümmten
Armen unbeholfene Flugbewegungen nachahmten und wie mit spitzen
Schnäbeln nacheinander hackten.
Der Herr kaiserliche Leibarzt würdigte die Spötter keinen Blickes und
flüsterte dem Kutscher etwas zu, das diesen einen Augenblick lang
buchstäblich erstarren ließ.
"Exlenz, gnä' Herr, wos, in die Totengasse wollen sich Exlenz fahren?" stieß
der Mann endlich halblaut hervor. "Zu die – zu die – zu die Menscher? – Und
jetzen in der Früh schon?"
"Aber die 'böhmische Liesel' wohnt sich doch gar nicht in der Totengassen"
– fuhr er erleichtert fort, als ihm der Pinguin sein Vorhaben genauer
auseinandergesetzt hatte. "Die 'bähmische Liesel' wohnt sich doch in der
'Neien Welt'. Gott sei Dank."
"In der – Welt? Unten?" fragte der kaiserliche Leibarzt zurück und warf
einen mißgelaunten Blick aus dem Fenster auf das zu seinen Füßen liegende
Prag.
"In der 'Neien Welt'", beruhigte ihn der Kutscher, "in der Gassen, was sich
um den Hirschgraben rundumadum ziecht." Dabei deutete er mit dem Daumen
zum Firmament empor und beschrieb dann behende mit dem Arm eine
Schlinge in der Luft, als wohne die alte Dame in beinahe unzugänglichen
Gefilden – sozusagen im Astralreich, zwischen Himmel und Erde. –
Einige Minuten später klomm Karlitschek wieder – mit dem gemessen
langsamen Bewegungen eins schwindelfreien kaukasischen Gebirgsmaultieres
– die abschüssige Spornergasse bergan. –
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt war eingefallen, daß er vor kaum einer
halben Stunde die "böhmische Liesel" durch das Fernrohr in den Straßen Prags
gesehen hatte und daß daher die Gelegenheit, den Schauspieler Zrcadlo, der bei
ihr wohnte, unter vier Augen zu sprechen, selten günstig sei. Und so hatte er
beschlossen, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen und lieber auf das
Gabelfrühstück beim "Schnell" zu verzichten.
Die Gasse, genannt die "Neue Welt", bestand, wie der Herr kaiserliche
Leibarzt eine Weile später – die Droschke mußte zurückbleiben, um peinliches
Aufsehen zu vermeiden – Gelegenheit fand, sich zu überzeugen, aus etwa
sieben getrennt voneinander stehenden Häuschen und dicht gegenüber einer
halbkreisförmigen Mauer, deren oberer Rand mit einem fortlaufenden Fries aus
mit Kreide zwar primitiv von Knabenhand gezeichneten, nichtsdestoweniger
aber äußerst drastischen Anspielungen auf das Geschlechtsleben verziert war.
Von ein paar Kindern abgesehen, die fröhlich kreischend in der knöcheltief mit
weißem Kalkstaub bedeckten Gasse Kreisel drehten, war weit und breit kein
menschliches Gesicht zu erblicken.
Von dem Hirschgraben, dessen Hänge mit blühenden Bäumen und
Sträuchern übersät waren, wehte ein duftgetränkter Hauch von Jasmin und
Flieder herauf, und in der Ferne träumte das Lustschloß der Kaisern Anna, von
dem silberweißen Gischt der sprühenden Fontänen umgeben, mit seinem
gebauchten, grünkupfernen Patinadach im Mittagslicht wie ein riesiger,
glänzender Käfer.
Dem kaiserlichen Leibarzt schlug mit einemmal das Herz seltsam laut in der
Brust. Die weiche erschlaffende Frühlingsluft, der betäubende Geruch der
Blumen, die spielenden Kinder, das dunstig helleuchtende Bild der Stadt zu
seinen Füßen und der ragende Dom mit den in Scharen über ihren Nestern
kreischenden Dohlen, alles erweckte in ihm wieder das dumpfe vorwurfsvolle
Gefühl von heute morgen, er habe seine Seele um ein ganzes langes Leben
betrogen.
Er sah eine Weile zu, wie sie die kleinen, grau-roten, kegelförmigen Kreisel
unter den Schlägen der Peitschen drehten und Staubwölkchen emporwirbelten;
er konnte sich nicht entsinnen, jemals als Kind dieses lustige Spiel getrieben zu
haben – jetzt kam es ihm vor, als hätte er ein langes Dasein voll Glück dadurch
versäumt.
Die offenen Flure der kleinen Häuser, in die er spähte, um die Wohnung des
Schauspielers Zrcadlo zu erkunden, waren wie ausgestorben.
In dem einen stand ein leerer Bretterverschlag mit Glasfenstern, hinter denen
wahrscheinlich in Friedenszeiten mit blauen Mohnkörnern bestreute Semmeln
verkauft worden waren oder – wie ein ausgetrocknetes hölzernes Fäßchen
verriet – saurer Gurkensaft gemäß der Landessitte: einen in diese Flüssigkeit
hängenden Lederriemen gegen Entgelt von einem Heller zweimal durch den
Mund ziehen zu dürfen.
Vor einem andern Eingang hing ein schwarz-gelbes Blechschild mit einem
zerkratzten Doppeladler darauf und den Fragmenten einer Inschrift, die
besagte, es dürfe hier straflos Salz an Reflektanten abgegeben werden.
Aber alles das machte den betrüblichen Eindruck, als sei es längst nicht mehr
wahr.
Auch ein Zettel mit großen, einst schwarzen Buchstaben: "Zde se mandluje",
was soviel heißen sollte wie: "Hier dürfen Dienstmädchen gegen
Vorausbezahlung von zwölf Kreuzern eine Stunde lang Wäsche mangen", war
halb zerrissen und ließ deutlich ahnen, daß der Gründer dieses Unternehmens
jegliches Vertrauen auf seine Erwerbsquelle eingebüßt haben mußte.
Allüberall hatte die erbarmungslose Faust der Kriegsfurie die Spuren ihrer
zerstörenden Tätigkeit hinterlassen.
Aufs Geratewohl betrat der kaiserliche Leibarzt die letzte der Hütten, aus
deren Schornstein ein dünner, langer Wurm graublauen Rauchs sich zum
wolkenlosen Maienhimmel emporschlängelte, öffnete nach längerem,
unbeantwortetem Klopfen eine Tür und sah sich - unliebsam überrascht – der
"böhmischen Liesel" gegenüber, die, eine Holzschüssel mit Brotsuppe auf den
Knien, ihn schon auf der Schwelle erkannte und mit dem herzlichen Ausruf:
"Servus! Pinguin! Ja, du bist's?!" willkommen hieß.
Die Stube, gleichzeitig Küche, Wohnzimmer und auch Schlafraum – nach
einer Lagerstätte aus alten Lumpen, Strohknödeln und zerknülltem
Zeitungspapier in der Ecke zu schließen –, war unendlich schmutzig und
vernachlässigt. Alles – Tisch, Stühle, Kommode, Geschirr – stand wild
durcheinander; aufgeräumt sah eigentlich nur die "böhmische Liesel" selbst
aus, da ihr der unvermutete Besuch offenbar große Freude bereitete.
An den zerfetzten pompejanischen Tapeten hing eine Tapete morscher
Lorbeerkränze mit blaßblauen, verwaschenen Seidenschärpen, darauf allerhand
Huldigungen wie "Der großen Künstlerin" usw., zu lesen waren, und daneben
eine bändergeschmückte Mandoline.
Mit der selbstverständlichen Gelassenheit einer Dame von Welt blieb die
"böhmische Liesel" ruhig sitzen und streckte nur, geziert lächelnd, die Hand
aus, die der Herr kaiserliche Leibarzt, blutrot vor Verlegenheit, zwar ergriff
und drückte, aber zu küssen vermied.
Den Mangel an Galanterie liebenswürdig übersehend, eröffnete die
"böhmische Liesel" die Konversation mit ein paar einleitenden Worten über
das schöne Wetter, wobei sie ungeniert ihre Suppe zu Ende schlürfte, und
versicherte sodann Seine Exzellenz ihrer hohen Befriedigung, einen so lieben
alten Freund bei sich begrüßen zu dürfen.
"Ein Feschak bist d' und bleibst d' halt doch, Pinguin", änderte sie,
unvermittelt ins Vertrauliche übergehend, die zeremonielle Tonart, ließ die
hochdeutsche Ausdrucksweise fallen und bediente sich des Prager Jargons,
"was man so sagt: ein sakramensky chlap." –
Erinnerungen schienen sie zu überfallen, und einen Moment lang schwieg
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