Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.
Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor
sich hin: "Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den
Kopf abhaut. – – – Daß Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was,
wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?" fuhr sie
laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.
"Den Preißen? – Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!"
"So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat's ihnen
halt wieder amal gegeben."
"Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preißen" – meldete sich der Pinguin –
"will sagen: mit 'denen' Preißen – schon seit drei Jahren gegen die Russen
verbündet und –" ("Ver–bin–dät!" – bekräftigte der Baron Elsenwanger. –) "–
und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. – Er ist – – –" Er brach höflich
ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.
Das Gespräch stockte, und man hörte eine halbe Stunde lang nur noch das
Klappern der Messer und Gabeln oder das leise klatschende Geräusch, wenn
Božena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen
auftrug. – – –
Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: "Herrschaften! Wollen wir jetzt
zum Whist – –?"
Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem
Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab – – –:
"Jesus, Maria – ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!" –
"Brock! Mistvieh, verflucht's. Kusch dich!" hörte man die halblaute Stimme
eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren
Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die
Veranda führte, geöffnet hatte. –
Eine Flut von Mondlicht ergoß sich in das Zimmer, und kühler Luftzug voll
Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern
flackern und schwelen.
Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein
Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag
rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht
ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder – bald gespenstisch
halb verdeckt durch die silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, daß es
schien, als sei er aus glitzerndem Mondlicht geronnen, dann wieder grell
beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel.
Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil traute seinen Augen nicht: Eine Sekunde
lang glaubte er, er träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen
des Hundes zur Besinnung – er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt
auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht,
verschwinden.
Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, daß der
Mann in den Garten gefallen war. –
"Mörder, Einbrecher! – Man muß die Wache holen!" zeterte der Edle von
Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür
geeilt war.
Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Knie geworfen, das
Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhls vergraben, und betete, in den
gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.
Auf die schrillen Befehle des kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger
nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung
hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus dem
Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild
durcheinanderrufend, die dunklen Bosketts. Der Hund schien den Eindringling
gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen
Intervallen.
"No alsdann, was ist denn, habts den preißischen Kosaken endlich?" zürnte
die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst
gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.
"Heilige Muttergottes, er hat den Hals gebrochen!" hörte man das
Dienstmädchen Božena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den
leblosen Körper eines Menschen von dem Fuß der Mauer her in den
Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.
"Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet", befahl die Gräfin kalt und
ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen
protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauern den Abhang
hinunterwerfen – – ehe er wieder lebendig werden könne.
"Bringt ihn wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer", flehte Elsenwanger,
drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter
ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloß die Tür hinter ihnen.
Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und
einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen, gangartigen
Raum – der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden
verrieten, daß er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten
worden war.
Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der
Wände eingelassen: Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen
gebieterisch in den Händen haltend – Frauen dazwischen mit Stuartkragen und
Puffen an den Ärmeln – ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine
aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheistpflästerchen auf Wange und
Kinn, ein grausames, wollüstig-süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit
wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und
feinen, hochgeschwungenen Brauen über den grünlichen Augen – eine Nonne
im Habit der Barnabiterinnen – ein Page – ein Kardinal mit asketischen,
mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem, farblosem Blick. So
standen sie in ihren Nischen, daß es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen
herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des
flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Haus. – Bald schienen sie
sich heimlich verbeugen zu wollen voll Vorsicht, daß nicht ein Rascheln der
Kleider sie verrate – schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu
schließen, mit den Fingern zu zucken oder die Mienen hochzuziehen, um
sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz
stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.
"Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil", sagte die Gräfin und sah
wartend unverwandt zur Tür. "Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch
im Herzen stecken. – Sie werden wieder sagen: Hier ist leider jede
menschliche Kunst am Ende."
Der kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte.
Dann begriff er mit einemmal. – Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die
Vergangenheit mit der Gegenwart – pflegte dergleichen zuweilen zu tun.
Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich
auch in ihm lebendig: Vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schloß auf
dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher
ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes – alles genau wie heute. Wie
jetzt hier im Raum waren auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen
und war ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden. – Einen
flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, daß er nicht mehr
wußte, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, daß es ihm gar nicht
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