Wieso machte sie sich Gedanken um die Gemütsverfassung eines Soldaten? Eines Soldaten, auf dessen Befehl hin man ihr und allen anderen Frauen ihres Dorfes feste Fußfesseln angelegt hatte, und der ohne das leiseste Zögern im Stande war, ein unschuldiges Mädchen per Knopfdruck zu foltern?
Valessa schniefte so laut, dass Anjella unwillkürlich zusammenzuckte. Sie fühlte sich ertappt. Eigentlich hätte ihre Sorge ihrer besten Freundin gelten sollen, die sie in diesem Augenblick mehr denn je brauchte. Stattdessen grübelte sie noch immer darüber nach, wo der junge Mann sich aufgehalten haben könnte und worüber er wohl nachgedacht hatte.
Sie beobachtete, wie er, den Blick streng geradeaus gerichtet, auf direktem Weg zum Lagerfeuer, um welches sich die übrigen Soldaten, die nicht die erste Wache übernommen hatten, versammelt hatte. Nachdem er ein paar Worte mit dem Hauptmann gewechselt hatte, erhob jener sich und die beiden verzogen sich einige Schritte in den Wald hinein, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Jeder Versuch zu ergründen, wie die beiden zueinander standen, endete in einem großen Fragezeichen.
Anjella seufzte leise. Sie sollten schlafen. Ein weiterer Tag gnadenloser Wanderung lag vor ihnen. Und vielleicht noch einer. Sie wusste aus Erzählungen, dass es in NeuAmerika Magnetbahnen gab, mit denen man die Hauptstadt in rasender Geschwindigkeit erreichen konnte, doch wie weit entfernt vom Nordland der nächste Bahnhof war, vermochte sie nicht abzuschätzen. Es war durchaus möglich, dass sie noch Wochen zu Fuß unterwegs sein würden.
Während sie für ungewisse Zeit ihren Gedanken nachhing, wurde das Schluchzen neben ihr leiser und ging in gleichmäßiges Atmen über. Und als die Männer schließlich aus der Dunkelheit zurückkehrten, war Valessa bereits eingeschlafen.
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Hjundrash war froh, dass Troscer wenigstens so einsichtig war, den Einwand der schwindenden Soldatenzahl als Rückzugsgrund gelten zu lassen. In ein paar Monaten konnten sie dann wieder mit vollständiger Aufstellung und ausgeruhten Männern ausrücken. Wenn Hjundrash viel Glück hatte, dann wurde ihm bis dahin ein eigenes Heer unterstellt und er konnte sich als frisch gebackener Leutnant beweisen. Ob es ihm gelingen würde, die Karriereleiter ebenso hoch zu erklimmen, wie Troscer es getan hatte, würde die Zeit zeigen. Es war schwer zu sagen, wie viele unbezwungene Orte noch im weitreichenden Norden des Nordlandes darauf warteten, entdeckt und erobert zu werden. Und in irgendeinem dieser Dörfer, in einer einfachen Hütte, unter einfachen Bewohnern musste die Prinzessin sich versteckt halten. Wenn es ihm gelänge, sie vor Troscer aufzuspüren…
Er verbot sich, den Gedanken weiterzudenken. Das war nicht fair. Er verdankte Troscer sehr viel. Zu viel, um eine ernsthafte Rivalität entfachen zu wollen. Zu viel, um sich das törichte Gefühl der Wut gegenüber dem Hauptmann erlauben zu dürfen.
Als er sich jetzt zufrieden am Feuer zur Nachtruhe niederlegte, fiel ihm auf, wie problemlos sich dieser erste Abend gestaltet hatte. Für gewöhnlich gab es doch immer die ein oder andere Heldin unter den Gefangenen, die zu fliehen versuchte oder einen Soldaten angriff. Wenn sie schließlich durch die praktischen Stromstöße der Fußfessel gestorben war, gab es allgemeines Wehklagen und hin und wieder auch lautstarke Angriffe oder Weinen. Hjundrash hasste es, wenn sie weinten. Er konnte Tränen nicht leiden. Es war ihm zuwider, dass diese kleinen Tropfen salzigen Wassers seine harten Mauern unterwandern konnten und in sein Innerstes vorzudringen vermochten.
Heute war es still. Auffallend still. Vielleicht war es gar nicht so schlecht gewesen, gleich zu Beginn ein Exempel zu statuieren. Nun wussten alle, woran sie waren und wenn manch eine während der Wanderung geweint hatte, so war es ihm wenigstens nicht aufgefallen. Jetzt, da der volle Mond sein Licht hier und da durch die Baumwipfel schickte, schienen alle zu schlafen. Auch das Reh, wie er die junge Frau mit den kastanienbraunen Haaren im Geheimen getauft hatte. In langen Locken fielen sie ihr über die Schultern und an mehreren Stellen durchzogen wie vom Morgenrot geküsste Strähnen ihr Haar. Alles in allem wirkte sie wie ein farbenreicher, edler Herbstwald, aus dem jedoch himmelblaue Augen wie ein unüberwindbarer Kontrast hervorstachen. Ganz im Gegensatz zu ihrem auffälligen Erscheinungsbild, welches sofort seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, schien sie äußerst scheu, wie ein junges Reh. Und er, Hjundrash, war ein Jäger. Ein vortrefflicher. Daher war es nicht schwer nachzuvollziehen, dass er sich bereits beim ersten Augenkontakt genau dieses Mädchen als Beute auserkoren hatte.
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Während Anjella zu Beginn noch die Stunden gezählt hatte, so hatte sie mittlerweile kaum noch die Kraft, sich zu merken, wie viele Tage sie bereits unterwegs waren. Das Wenige an Essen, das die Soldaten den Frauen überließen, reichte nicht einmal annähernd, um die vom stundenlangen Wandern leeren Mägen zufriedenzustellen. Nachts blieben ihnen sechs Stunden Schlaf und das auch nur, weil die Akkus der Fußfesseln so lange benötigten, um an den portablen Stationen wieder vollständig aufgeladen zu werden. Hunger und Müdigkeit waren somit an der Tagesordnung.
Die Gespräche waren längst verstummt. Während die Soldaten auf ihren Pferden ritten, mussten die Gefangenen alle Konzentration darauf verwenden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wer zusammenbrach und nicht mehr weiter konnte, wurde an ein Pferd gebunden und so lange mitgeschleift, bis sein Körper die Strapazen nicht mehr länger ertrug. Bereits vier ältere Frauen hatten auf diese Weise ihr Leben gelassen. Unter den Übrigen herrschte eine überlebenswichtige Gleichgültigkeit.
Als sie nach zweiundvierzig schrecklichen Tagen bei Einbruch der Dunkelheit den Äußersten Bahnhof erreichten, war es bereits so warm, dass Anjella den Sommer beinahe fühlen konnte. Wenn sie noch fähig gewesen wäre, überhaupt irgendetwas zu fühlen.
Der mit knalligen Farben bemalte Zug, der mitten in der kargen Landschaft abgestellt worden zu sein schien, glich einem Raumschiff, welches Außerirdische zufällig hier platziert hatten. Hätten die Soldaten ihr mehr Zeit zum Nachdenken gelassen, bevor sie sie in das mittlere Abteil gescheucht hatten, wäre Anjella versucht gewesen, zu glauben, dass sie vor lauter Entbehrungen den Verstand verloren hätte.
Nachdem jede Frau auf einen Sitzplatz verfrachtet und ihre Fessel an die Dockingstation angeschlossen war, setzte der Zug sich in Bewegung und Anjella überkam eine unbeschreibliche Übelkeit. Das Gefährt raste mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit über den Boden hinweg, so dass die Welt dort draußen nur als buntes Farbenspiel vor ihren Augen hinüberflog. Farbenfrohe Kleckse in verschwimmenden Nuancen. Ein Bild, das ihr Vater so geliebt hatte, rief sich ihr in Erinnerung. ‚Impressionistisch‘, war das Wort, das er dafür gebraucht hatte.
Anjella fand es hässlich. Jetzt hasste sie es noch mehr.
Entschlossen wandte sie ihren Blick vom Fenster ab und schloss die Augen. Der Sitz unter ihr vibrierte leicht, doch das Abteil war so gut isoliert, dass keine Fahrgeräusche an ihr Ohr drangen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob der Zug überhaupt welche verursachte. Ihr Wissen über Fahrzeuge jeglicher Art beschränkte sich auf die Überlieferungen der Alten.
„Wir werden nicht zurückkommen“, flüsterte Valessa neben ihr. Es waren die ersten Worte, die sie seit zweiundvierzig Tagen von sich gab. „Nicht wahr?“
Anjella schluckte, obwohl ihr Mund eigentlich viel zu trocken dafür war. Sie wünschte sich, ihrer Freundin widersprechen zu können, doch sie hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu. Sie würden nicht zurückkommen. Keine von ihnen würde je zurückkommen. Mit dem Daumen strich Anjella über ihre Handfläche und fühlte die sanften Konturen des halben Rings. Selbst wenn sich der Träger des zweiten Teils in der Hauptstadt aufhielt, so hegte sie keine große Hoffnung, dass sie ihn auch erkannte. Wenn keiner ihr ansah, dass sie die Prinzessin aus dem Nordland war, wieso sollte der andere Auserwählte sich dann ausgerechnet ihr offenbaren?
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