Im Laufe der Jahre erlebte sie nie wieder solch eine böse Überraschung. Sie gab sich neugierig und fragte allen Erwachsenen Löcher in die Bäuche. Man hielt sie für klug, intelligent, wissbegierig und fleißig, nicht wenige waren begeistert von ihr. Doch warum sie so war, erfuhr nie jemand. Tanja konnte mit niemandem darüber reden. Sie begriff zwar schnell, dass dadurch ein falscher Eindruck von ihr entstand, aber das störte sie nicht. Darüber hinaus wurde ihr klar, dass sie eine Rolle spielte, die sie sich selbst auferlegt hatte und dass sie jemanden spielte, der nicht sie war. Als sie das verstanden hatte, und das ist noch nicht allzu lange her, zogen sich ihre Eingeweide zusammen, ihr wurde schlecht und sie musste sich tatsächlich übergeben. Nun verstand sie, dass sie sich einen noch größeren Schock versetzt hatte, als es damals ihre Mutter getan hatte. Indem sie viele Jahre lang alles, aber auch wirklich alles in ihrer Umgebung beobachtet, ausgespäht und so gut es ging analysiert hatte, um auf alle erdenklichen Katastrophen vorbereitet zu sein, hatte sie ganz und gar vergessen, sich mit einem Teil von ihr zu beschäftigen, der das Ich genannt wird. Ständig alles andere überwachend, wuchs sie still und heimlich in sich versteckt und vor ihren eigenen Blicken verborgen heran. Doch sie wuchs und wuchs, unaufhörlich, unentwegt, und eines Tages forderte diese Tanja ihr Recht.«
An dieser Stelle unterbrach sie ihre Erzählung und blickte versonnen aus dem Fenster, während Susanne ihre Cousine anstarrte. Einige Augenblicke später fuhr Tania folgendermaßen fort: »Ja! Es ist wirklich so. Bei Paul auszuziehen und nun hier mit dir und den Jungs zu wohnen, war erst die zweite wirkliche Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Verstehst du mich? Ich meine so eine richtige Entscheidung, bedeutender und weitreichender, als zwischen zwei, drei, vier oder fünf Apfelsorten im Supermark zu wählen. Das war ich, verstehst du? Ich ganz alleine! Und davor haben mich meine Eltern in den Kindergarten und in die Schule gesteckt. Es war auch ihre Idee, dass ich aufs Gymnasium gehen sollte. Ich kann ein bisschen Gitarre und Flöte spielen, weil sie mir sagten, wie gut es sei, wenn ich ein oder besser mehrere Instrumente beherrsche. Gott!, wie hab ich meine Gitarrenlehrerin gehasst! Ich war so froh, als ich bemerkte, dass meine Eltern keine Wunderdinge von mir erwarteten, so konnte ich einmal im Monat den Unterricht schwänzen; die Lehrerin hat es nicht verraten, hat einfach des Geld genommen. Hätten Vater und Mutter sich ein musikalisches Wunderkind gewünscht, ich wäre es geworden. Doch um mit dieser blöden Ziege nicht noch mehr zu tun zu haben, habe ich immer schlechter gespielt, als ich konnte. Die anspruchsvolleren Sachen habe ich immer allein gemacht.«, sagte Tania bitter lachend.
»Und was noch?«, fuhr sie überlegend fort. »Ach ja! Tanzschule, Fahrschule, Konfirmation! Alles ihnen zuliebe, weil sie es wollten. Und nun das Studium. Dass ich in einer anderen Stadt studiere, kam gar nicht in Frage. Und glaube mir, es ist nicht untertrieben, wenn ich sage, dass ich nur mit größter Mühe und Not verhindern konnte, von Mutter in BWL eingeschrieben worden zu sein. Außerdem musste ich, wie du weißt, während des gesamten ersten Semesters zu Hause wohnen. Dann hab ich gleichzeitig mit meinen Eltern Paul auf deiner Geburtstagsfeier kennengelernt. Er war ihnen sympathisch und seitdem hatten sie sich gewünscht beziehungsweise die Hoffnung geäußert, dass ich mir auch mal wieder einen Freund suche. Das hört sich jetzt bestimmt ziemlich schräg an, aber mit Paul eine Beziehung einzugehen und zu ihm zu ziehen, war auch nicht allein meine Entscheidung . . . Ich kann das nicht mehr!«, sagte Tania nach einer kurzen Pause. »Darum und noch vieler anderer Dinge wegen habe ich momentan große Probleme, auf Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen anderer einzugehen.«
Mit diesen Worten beendete sie ihre Offenbarung. Sie setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Endlose Sekunden saßen sich Tania und Susanne stumm gegenüber. Nach einer Weile zündete Susanne sich ebenfalls eine Zigarette an und sagte: »O.k. Ich muss das erst mal verdauen. Das war mir neu, also deine Sicht auf die Dinge war mir neu. Ich kenne dich anders, ganz anders sogar. Darf ich trotzdem noch eine Frage stellen?«
»Frag einfach!«
»Du hast gesagt, dass deine zweite wirklich eigene Entscheidung war, bei Paul auszuziehen. Du hast auch gesagt, dass es nicht allein deine Entscheidung war, mit ihm zusammen zu sein und bei ihm einzuziehen. Was war denn dann deine erste richtige eigene Entscheidung?«
»Du wirst lachen!«, sagte Tania. »Meine erste eigene Entscheidung habe ich getroffen, kurz nachdem ich mich sozusagen selbst entdeckt hatte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt in einer echten Krisen gesteckt, war überempfindlich und dementsprechend reagierte ich bisweilen auf kleinste Kleinigkeiten vollkommen überzogen. Während dieser Phase kam ich an einem Tag, an den ich mich nicht mehr genau erinnern kann, von der Uni nach Hause. Paul war nicht da, weil er noch einmal in die Bibliothek musste. Er hatte mir einen Zettel geschrieben, auf dem neben einer Nachricht für mich mein Name stand und als ich ihn las, kam plötzlich eine riesige Wut in mir hoch. Ich war nicht mehr ich, nicht mehr die, die ich doch war, also konnte das nicht mein Name sein. In diesem Augenblick kam auch Paul nach Hause und ohne weiter darüber nachzudenken, was ich tat, ja ohne dazu überhaupt fähig gewesen zu sein, zerriss ich den Zettel, warf ihn ihm vor die Füße und schrie, dass mein Name von nun an bis in alle Ewigkeit mit istatt jgeschrieben wird. Der Arme wusste gar nicht, wie ihm geschah, es tat mir auch leid und ich habe es wieder gut gemacht. Meine erste eigene Entscheidung war also, meinen Namen von Tanja mit jin Tania mit izu ändern.«
»Und was wird deine nächste richtige Entscheidung sein?«, wollte Susanne daraufhin wissen.
»Was für eine Entscheidung muss ich denn jetzt schon wieder treffen?«, fragte Tania erstaunt zurück.
»Irgendwann, schon bald vielleicht, solltest du dir und auch Paul klar machen, ob du mit ihm zusammenbleibst, falls das überhaupt noch möglich ist.«
»Was? Wieso? Wir sind doch zusammen!«, antwortete Tania erregt.
»Meinst du wirklich, dass es so bleiben kann? Ich will dich nicht nerven, aber sei nicht naiv! Für eure Beziehung ist dein Auszug ein Schritt zurück. Das wird nicht folgenlos bleiben.«
»Ich weiß. Aber ich kann nicht anders!«, antworte Tania mit fester, leiser, doch umso entschlossenerer Stimme und fügte hinzu: »Lass uns frühstücken! Ich kann und will jetzt nicht mehr darüber reden.«
Frieda saß wie so oft auf dem Fensterbrett des Wohnzimmerfensters, zu einer Zeit, in der sie sich gewöhnlich mit Paul traf. Sie versuchte einen Blick hinein zu werfen, konnte aber wegen der zugezogenen Vorhänge nichts erkennen. So flog sie weiter und landete auf dem Balkon, wo sie die Tür zur Küche verschlossen fand. Sie spähte durch die Scheibe, keine Menschenseele war zu sehen. Ein wenig wunderte sie sich, dass niemand zu Hause zu sein schien. Sicher waren ihre Besuche nicht immer regelmäßig, doch gerade in den letzten Tagen, seit sie bemerkt hatte, dass etwas Grundlegendes im Wandel begriffen war, bemühte sie sich, häufiger vorbeizuschauen.
Es war sehr merkwürdig, Paul erneut nicht anzutreffen. War er zu Hause oder nicht? Frieda wusste es nicht. Zwar konnte sie mit Hilfe ihres ausgezeichneten Beobachtungssinnes feststellen, dass in der Küche und auf dem Balkon während der letzten Tage nichts verändert worden war, was für Pauls Abwesenheit sprach, doch die Unordnung in der Küche ließ vermuten, dass er nicht verreist war, denn Ordnung war eines der Merkmale, die sie an ihm und an seiner Wohnung schätze. Niemals würde er auf eine Reise gehen, ohne zuvor aufgeräumt zu haben, da war sie sicher, und fragte sich, warum er ihr nicht ein wenig Futter auf den Balkon gestellt hatte. Ja, dieser Umstand befremdete Frieda am meisten, denn selbst wenn er einige Tage nicht anzutreffen war, sorgte er für sie vor. Doch diesmal war alles anders. Paul war wie vom Erdboden verschluckt, der Futternapf gähnte vor Leere und die Wohnung war nicht aufgeräumt. Sie müsse sich anderweitig um Nahrung kümmern, sagte sie sich, und dachte an den Domplatz und an die anderen größeren Plätze der Stadt, vielleicht würde sie einen Abstecher in den Park machen, denn auch dort gab es immer ein paar Krumen zu holen. Zuvor wollte sie sich aber noch ein wenig ausruhen, ihr Hunger war klein und die Futtersuche lief nicht weg. Frieda machte es sich auf dem Balkon gemütlich, blinzelte kurz in die Sonne und nickte ein.
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