Paul vermochte sich nicht vorzustellen, was es damit auf sich hatte. Ein einfaches Viereck, das auf einem Berg stand? Aber ja, so war es! Es war nicht zu leugnen! Man hatte tatsächlich ein Viereck aus Beton auf die Kuppe des Berges mitten über der Straße gebaut. Ein Viereck, wirklich nur ein Viereck! Vier Mauern mit einem Flachdach und, wie er erkennen konnte, mit einem Tor, das aussah wie ein Garagentor.
Was sollte das nun wieder bedeuten? Wieso befand sich hier ein solch merkwürdiges Gebäude? Warum war es mit einem Tor verschlossen, fragte sich Paul und sann, das Viereck betrachtend, über eine Erklärung nach, die den Sinn desselben enthüllen konnte. War es eine Art Schutzbau für die Autos, die über den Gipfel fuhren, damit sie nicht bei stürmischem Wetter ins Tal geweht wurden? Oder war es ein Regen-, Sonnen-, oder Frostschutz für die Straße, damit diese nicht der Witterung ausgesetzt war? Paul fand keine vernünftige Antwort und argwöhnte, dass es eine solche womöglich nicht gab. Jedoch wurde er der Suche schnell überdrüssig und, sich der vergehenden Zeit erinnernd, beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen.
Das Tor war fest verschlossen, wie Paul feststellen musste. Unschlüssig stand er davor und überlegte, was er tun sollte. Er hatte längst bemerkt, dass an eine Umgehung nicht zu denken war. Steil, schroff und voller scharfer Kanten fiel der Fels unmittelbar rechts und links neben dem Gebäude ins Tal hinab. Der bloße Gedanke an einen Versuch schien Paul wie eine konkrete Gefahr für Leib und Leben.
Es musste einen Weg hinein geben, denn Paul konnte nicht einfach wieder umkehren. Er musste in die Stadt und zwar schnell, möglichst vor Einbruch der Dunkelheit. In der Überzeugung, einen Nebeneingang zu finden, lief er an der Wand entlang. Und schon nach wenigen Sekunden fand er eine Tür, die sich ohne Schwierigkeiten öffnen ließ und ins Innere führte.
Eine gewaltige Halle tat sich vor seinen Augen auf! Sie besaß jedoch kein Dach, wie Paul irrtümlich angenommen hatte – die Halle war gar keine Halle. Gefesselt von der schieren Höhe der gewaltigen Mauern blickte er gen Himmel und wunderte sich, dass das Gebäude von außen wesentlich kleiner wirkte. Dann betrat er die Straße, ging ein paar Schritte und folgte ihrem Verlauf mit den Augen. Jäh blieb er stehen, als ihm gewahr wurde, dass sie nach einigen Metren abriss und sich dort auch keine Wand befand. Vorsichtig lief er zu der Stelle und blickte in einen tiefen Abgrund. Die Felswand fiel hier beinahe senkrecht ab und ließ man seinen Blick in die Tiefe gleiten, konnte man hier und da ein paar Autowracks entdecken beziehungsweise das, was von ihnen übrig geblieben war, nachdem sie in die Tiefe gestürzt waren. Schnell wich er ein paar Schritte zurück, um die Gefahrenzone zu verlassen. In Sicherheit blickte er in die Ferne und sah die Stadt, die er, wie er sich eingestehen musste, auf diesem Weg nicht würde erreichen können.
Unschlüssig sah er sich um und betrachtete die drei Mauern, die anscheinend nur errichtet worden waren, um einen Sturz ins Verderben zu verhindern. Doch was sollte er tun, von allen Menschenseelen verlassen im Inneren dieses merkwürdigen Schutzgebäudes, das nur schützen konnte, solange man außerhalb blieb?
Durch die Tür, durch die er hereingekommen war, trat er wieder ins Freie. Er erblickte einen Kleintransporter, der neben der Straße abgestellt war. Vorhin hatte er ihn nicht bemerkt, wunderte er sich. Dann erkannte er an einer Aufschrift an der Wagenseite, dass es sich um das Fahrzeug einer Malerfirma handelte. Was macht denn eine Malerfirma hier oben, überlegte er und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass das Auto nicht allein hierher gefahren sein konnte. Jemand musste in der Nähe sein, den er fragen konnte, welcher Weg in die Stadt führte, den er unter Umständen sogar bitten konnte, ein Stück mitfahren zu dürfen.
Als Paul jedoch niemanden finden konnte und auch seine Rufe unbeantwortet blieben, kehrte er ins Innere zurück. Von irgendwoher drang nun leise der Klang eines Radios an seine Ohren, den er vorhin nicht gehört hatte. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Töne kamen und entdeckte ein Gerüst, auf dem zwei Maler standen und die Wand mit weißer Farbe anstrichen. Er lief geradewegs auf sie zu, um ihnen seine Fragen zu stellen. Die Maler indes bemerkten ihn nicht und verrichteten ihre Arbeit. Nur wenige Meter von ihnen entfernt zog eine Treppe Pauls Aufmerksamkeit auf sich. Sie führte nach unten, ins Innere des Berges, und ließ ihn augenblicklich die Maler vergessen.
Paul ging hinab, bis er einen kleinen Hohlraum erreichte, in dem eine schwache Glühbirne nur mäßig Licht spendete, und in dessen Mitte ein starkes Eisengitter im Boden eingelassen war. Er trat heran und erkannte darunter eine steinerne, von weiteren Glühbirnen erleuchtete Wendeltreppe, die aus dem Fels heraus gehauen war, in die Tiefe hinab führte und deren Ende nicht zu sehen war.
War das der Weg, den er gehen musste, unzählige Stufen hinab, die in eine geheimnisvolle Tiefe führten? Ein Gefühl gab ihm die Gewissheit, endlich den richtigen Weg gefunden zu haben. Doch wie sollte er das Gitter überwinden, das fest im Betonboden verankert war? Paul versuchte es herauszureißen und verschwendete unnütz seine Kräfte, da es sich einfach nicht bewegen ließ. Doch unbeirrt wiederholte er seine Versuche, er konnte einfach nicht davon ablassen. Plötzlich vernahm er Geräusche, die ihm aus der Halle herab an die Ohren drangen. Er unterbrach sein Unterfangen für einen Moment, stieg einige Stufen hinauf und überprüfte, was dort vor sich ging. Die Maler beendeten gerade ihre Arbeit und Paul sah, wie sie ihre Pinsel und Farbrollen in großen Wassereimern ausspülten. Das Gerüst war nicht mehr zu sehen, vermutlich hatten sie es bereits abgebaut oder beiseite geräumt. Schon nahmen sie ihr nunmehr sauberes Werkzeug aus dem Wasser, bald würden sie gehen. Sie würden gehen! Und Paul? Paul hatte einzig das Gitter im Sinn, durch das sein Weg führte; dennoch wurde ihm bange, er wollte nicht schon wieder allein zurückbleiben.
Sollte er sie nicht rufen und bitten, ihn mitzunehmen? Ja! Das sollte er und er wusste es. Stattdessen beobachtete er die Maler nur, die bereits ihre Werkzeuge verstaut hatten, auf einer der untersten Stufen der Treppe stehend, sodass kaum sein Kopf zu sehen war.
Jetzt brechen sie auf! Keine Zeit zu verlieren! Noch schnell ein letzter Versuch, das Gitter zu öffnen! Schaffte er es nicht, würde er zu ihnen gehen.
Mit einem Satz nach unten gesprungen und mit aller Kraft am Gitter gerüttelt – es bewegte sich nicht! Bestimmt waren die Maler schon auf und davon. Er sprang drei, vier Stufen hinauf, spähte in die Halle, niemand mehr zu sehen, nur noch die Tür fiel langsam ins Schloss. Hinterherrennen musste er ihnen! Doch er sprang wiederum nach unten. Wieder riss er wie blöde am Gitter; es blieb seine bewegungslose Obsession; jetzt war alles klar!: rütteln ziehen reißen – dort, wo etwas vor ihm verschlossen war. Da! Ein Geräusch in der Halle. Schnell nach oben gesprungen. In die Halle gespäht. Ein Maler! Er holt das Radio! Zeit gewonnen, Zeit gewonnen! Schnell zurück nach unten! Mach langsam Maler! Nur ein Versuch, ein letzter, der Letzte. Dann komme ich und gehe mit euch, nur mit euch, wohin ihr wollt.
Der Schlaf eines Menschen kann beeinflusst durch verschiedene Umstände so tief und fest sein, dass mitunter Tage vergehen – in besonderen Ausnahmefällen sogar Monate oder Jahre –, bevor er wieder erwacht. Auch gibt es vollkommen verschiedene Arten von Schlaf, deren Bandbreite sich vom gewöhnlichen Schlaf bis zu einem speziellen Zustand erstreckt, der am treffendsten mit der Bezeichnung Nicht-Wach-Sein umschrieben werden kann. Kein Sonnenstrahl, der an der Nase eines Menschen kitzeln mag, der einen derartigen Schlaf schläft, vermag diesen in den Wachzustand zurückzuführen. Und so machtlos die Sonne in diesen zugegebenermaßen recht seltenen Fällen selbst am allerschönsten und lichtdurchflutetsten Sommertag ist, dessen Helligkeit trotz allem nicht genügen wird, das wirkliche Erwachen-Wachsein durchzusetzen, damit ein jeder den Glanz und die Pracht des Tages genießen darf, so machtlos ist sie auch im gegenteiligen Fall, wenn es einem Menschenkind ankommt, noch vor aller Zeit die verschlafenen Äuglein zu öffnen, zu denken, nun aber einmal die Sonne gehörig zu foppen und nicht zu warten, bis sie ihre Strahlen zur Erde hinabwirft, der vielmehr den eigenen Schlaf mutig abschüttelt, obschon die Müdigkeit sich festklammert und mit Nachdruck ihr Recht fordert.
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