Und es war mir so weh, so – ich weiß nicht wie, und mein Kopf glühte und hämmerte, als ob Feuer darin wäre. Ich konnte auch nicht richtig denken und überlegen, die Gedanken rasten wie Räder immer um die eine Frage herum: was soll nun werden? Soll ich es Elisabeth nachmachen und ins Wasser gehen, oder soll ich Meinert bitten, daß er mir Gift gibt? Oder soll ich mich unter den Zug werfen und mich totfahren lassen? Denn daß ich mich vor der Welt aus dem Staube machen muß, steht so fest bei mir, wie Amen in der Bibel.
Ich blieb den ganzen Abend oben und wollte nicht herunter, aber nachher kam Vater und bat, ich möchte aufmachen, und seine Stimme klang so merkwürdig zitternd und weinerlich, daß ich mich nach einer Weile hinschlich und öffnete. Mit meinen brennendheißen Augen sah ich, wie elend und verfallen Vater aussah, und plötzlich liege ich in seinen Armen und weine, und er weint auch und küßt mich und wir konnten beide vor Schluchzen kein Wort sprechen.
»Kind, Kind! mein armes, kleines Mädchen! Sag mir nur das eine: hat das Weib recht? War es Meinert?« stieß Vater heraus. Ich nickte. Vater stöhnte. »O Gott, o Gott«, sagte er einmal über das andere. Und dann wieder: »Versprich mir nur, daß du keine Dummheit machst, mein armer Engel. Ich werde mit Meinert sprechen, es wird schon alles ins Lot kommen.« Ich mußte ihm in die Hand versprechen, daß ich mir kein Leid antue. Dafür bat ich mir aus, daß sie mich den andern Tag in Ruhe ließen und mir das Essen auf mein Zimmer gebracht würde. Vater versprach alles.
Nachher kam Meinert. Er sah bitterböse aus und war wütend. »Hättest du mir gleich gesagt, was los ist, wäre es gar nicht so weit gekommen«, schrie er, »ich hätte dir ein paar Tropfen eingegeben, und dann wäre alles in Ordnung. Nun haben wir die Bescherung. Dein Vater heult wie ein altes Weib, und deine Stiefmutter blökt das Haus zusammen, morgen weiß es die ganze Stadt. Die Frieda Gotteball, das buckelige Aas, sitzt unten in der Wohnstube und kriegt alles haarklein von dem Mensch vorgebetet.«
Tante Frieda! Meine letzte Kraft brach zusammen. Ich sah die strengen durchbohrenden Augen des alten Weibleins auf mich gerichtet und mein Herz fing an vor Furcht, Scham und Schreck zu erstarren. »Gib mir Gift«, sagte ich. Er lachte kurz auf. »Papperlapapp – Gift. Das soll was sein. Mir bleibt nichts übrig, als dich zu heiraten. Wenn dein Vater mich zum Teilhaber macht, soll’s mir recht sein, sonst danke ich für Obst.« Er lief hinaus und ich lag da, und durch meinen Körper liefen eisige Schauer. Ich dachte, daß ich Meinert heiraten sollte, und plötzlich, ich weiß nicht wie, kam es an mich heran und in mich hinein und stand das Eine still und fest in mir: lieber tot. Lieber ins Wasser oder unter die Zugräder, als Meinerts Frau werden. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht.
Ich weiß nicht wie es ist, aber es ist so, daß sich alles in mir und in meinem Empfinden plötzlich gewendet hat. Denn mit einem Male weiß ich: ich hasse Meinert. Mich ekelt vor ihm. Er ist schlecht. Wenn ich an ihn denke, ist es mir, als ob ein ekles Gewürm an meinem Körper emporkriecht. Wenn ich denke, daß mein ganzes Leben an diesen Menschen gekettet sein soll, daß ich verurteilt bin, nicht nur ferner, sondern für alle Zeit, bis an mein Ende ihm als Eigentum anzugehören, wird es mir schwarz vor den Augen. Nein, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht …
Morgen mehr …
Tante Frieda konnte das Geheimnis natürlich nicht für sich behalten und zwei Tage nach jener schrecklichen Entdeckung, die mich selber wie ein Dieb in der Nacht traf, kam sie mit den Verwandten an, mit Lehnsmann Pohns und Tante Frauke, Onkel Dirk Thomsen und Tante Trine. Und alle saßen zusammen in der guten Stube und hielten Familienrat, was mit mir geschehen sollte. Genau wie damals, bevor ich nach T. kam.
Ich war oben in meiner Stube, aber während ich da am Fenster hockte, kribbelte es mich plötzlich, hinunterzugehen und zu hören, was verhandelt wurde. Ich schlich mich deshalb leise die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und horchte durch das offene Guckfenster, was sie sprachen. Zuweilen schob ich ganz vorsichtig die Gardine etwas zurück, um zu sehen, und kein Wort entging mir.
Sie waren sehr erregt und sprachen heftig durcheinander. Tante Frieda hatte nicht mal abgelegt, in Hut und Jacke saß sie am Tisch mit hochrotem, verstörtem Gesicht. Ich hörte, daß die Rede davon war, ich sollte Meinert heiraten. Vater sagte, Meinert sollte sein Kompagnon werden und es sei schon alles in Ordnung, die liebe Familie brauche sich gar nicht erst groß aufzuregen. Das standesamtliche Aufgebot werde in den nächsten Tagen bestellt werden. Die Lene heulte und rief, dadurch würden ihre Kinder benachteiligt, und so bleibe nichts für sie übrig und sie könnte wieder dienen gehen und ihre Kinder ins Armenhaus bringen, wenn Vater mal stürbe. Vater rief ihr zu, sie solle das Maul halten, und Onkel Dirk und Lehnsmann Pohns sagten laut, dies sei der einzig richtige Ausweg aus dem Dilemma, es sei zwar eine fürchterliche Schande für die Familie, aber nicht das erste- und nicht das letztemal, daß so etwas passierte. Mitten in die Rederei schoß Tante Friedas Stimme wie eine eiskalte Wasserspritze. »Will denn die Thymi überhaupt den Meinert heiraten?« Zwei Sekunden lang blieb es still im Zimmer, dann erhob sich ein lautes Durcheinander von Stimmen, die alle schrien, das sei doch selbstverständlich und ich müsse einfach, und die Lene überkreischte alle: »Wär ja noch mal schöner, wenn die sich aufsetzte, nachdem sie … Die soll froh sein, wenn sie unter die Haube kommt …« Und dann, ich weiß nicht wie, war plötzlich Streit im Gange. Tante Frieda überschrie jetzt alle andern. »Ich weiß noch lange nicht, ob es gut getan ist, das Kind Hals über Kopf dem Schuft, dem Meinert, anzukuppeln. Kommt noch sehr darauf an, was für ein Unglück leichter zu tragen ist, der Makel auf dem Namen oder ein ganzes Menschenleben Eheelend …«
»Du bist übergeschnappt, Frieda«, rief Tante Frauke erregt, »sie kann doch nicht so laufen bleiben. Und wie sie sich das Bett macht, muß sie drin liegen. Wenn sie sich mit Meinert abgegeben hat, muß sie ihn heiraten.«
»Das ist auch meine Meinung«, sagte Vater, »die Heirat ist die beste Lösung.«
»Die Heirat mit solchem Menschen?« rief Tante Frieda, »solch ein Schuft, der die Einfalt und Unwissenheit von einem unmündigen Kind benutzt, und sie unglücklich macht … Und daß du als Vater nicht einsiehst, was du deinem Kind mit dieser Heirat anhängst. Bist du ein Vater? Ein elender Schuft bist du auch, wie dein Genosse. Ja, das bist du«, schrie sie und schlug mit der Faust auf den Tisch, »bist du ein Mann, der ein Kind und noch dazu ein Mädchen erziehen konnte? Du – du!! Hab ich’s nicht immer gesagt und dich beinahe fußfällig gebeten, das Mädchen nach der Einsegnung aus dem Hause in Pension zu geben? Du bist schuld. Über dich sitzen wir hier zu Gericht und nicht über das unglückliche, verführte Kind, daß du’s weißt. Wie ein Rabenvater hast du an deiner Tochter gehandelt, als du sie hier behieltest.«
»Ich?« rief Vater. »Ich habe mein Kind abgöttisch geliebt, Frieda. Mich trifft kein Vorwurf.«
»Ja, ja, das ist noch lange keine Liebe, daß man einem Kind allen Willen tut und Ja und Amen zu allem sagt, was es in seiner Dummheit sinnt und anstellt. Hier in dies Haus gehört eben kein heranwachsendes Mädchen. Die Apotheke ist schon lange verrufen. Hier ist, seitdem deine arme erste Frau tot ist, kein anständiges Haus und kein geregeltes Familienleben mehr. Ein Bordell ist hier und eine Hurenwirtschaft – ja – ja – ja … Die einzige anständige Person, die hier in den Jahren schaltete, war das arme Mädel, die du auch auf dem Gewissen hast – du Erzhalunke du …«
»Die einzige«, kreischte Lene. »Bin ich vielleicht keine anständige Person, bin ich vielleicht auch so eine …«
Читать дальше