»Da kommt bestimmt euer Boss«, rief sie und verschwand durch die Schwingtür.
Der Wagen bremste scharf auf dem Parkplatz, und man hörte den Kies unter den Reifen knirschen. Die Autotür klappte zu, und Schritte näherten sich dem Eingang. Die Männer drehten sich herum, doch nicht der erwartete Mike Clark betrat den Raum, sondern Sheriff Jack Weiser. Er schaute sich kurz um und ging dann direkt auf die Fernfahrer zu. Dabei nahm er seinen Hut ab und wischte sich mit einem Taschentuch die schweißnasse Stirn ab.
»He Leute«, sagte er, »Ich muss mit euch reden. Ihr wartet bestimmt auf euren Boss. Er wird nicht kommen. Da ist ...«. Nun schaute er an die Decke, kniff leicht die Augen zusammen und räusperte sich, um dann fortzufahren. »Also, da ist was passiert. Ich weiß nicht, ob ihr Männer heute Nacht noch losfahren wollt oder ...«
» Ja, was ist denn passiert, Sheriff? Nun rücken Sie doch endlich raus mit der Sprache. Was is‘n mit dem Boss?«, fuhr Pete dazwischen.
Der Sheriff setzte seinen Hut wieder auf, rückte ihn zurecht, atmete noch einmal durch und sagte dann: »Euer Boss ist umgebracht worden. Wir fanden seine Leiche fünf Meilen von hier entfernt, vor etwa einer Stunde. Nachdem wir mit seinem Büro telefoniert hatten, wussten wir, dass er zu euch unterwegs war. Nebenbei, wie lange seid ihr denn schon hier?«
» Seit über zwei Stunden «, klang es aus der Küche, und Lora betrat den Gastraum. »Mein Gott, Sheriff, das ist ja schrecklich«, rief sie. »Was um alles in der Welt ist denn geschehen?«
Lichtfinger geisterten durch die Nacht. Ein Generator lief laut brummend an, und kurz darauf erhellten große Scheinwerfer die Szene. Polizisten schalteten ihre Taschenlampen aus. Die Straße war in beiden Richtungen mit rotweißen Barrikaden gesperrt. Davor standen weitere Polizisten, um ankommende Fahrzeuge zurückzuschicken.
Vor einigen Minuten waren Spezialisten der Spurensuche aus New Bismark gekommen und liefen nun geschäftig in ihren weißen Overalls um den halb im Graben stehenden Wagen des Opfers herum. Auf einem Tritt des Krankenwagens saßen der Farmer Ben Johanson und seine Frau Julie. Das flackernde Licht der Polizeiwagen konnte nicht ihre blassen Gesichter verbergen. Ein Sanitäter sprach beruhigend auf die beiden ein, aber sie schauten mit starrem Blick nur auf den Waldrand.
Hanky lag in seinem eigenen Bett und starrte die Decke an. Der Doktor hatte ihn nach Hause gefahren und ihn zusammen mit seinen Eltern ins Bett gebracht. Alle waren sehr besorgt gewesen, und seine Mutter hatte noch lange an seinem Bett gesessen und seine Hand gestreichelt. Sie sah in Hanky immer noch den kleinen Jungen mit den großen Augen, der so in seinen Tagträumen versunken war, dass er immer abwesend wirkte. Sie hatten nie genug Geld gehabt, um den Jungen richtig untersuchen zu lassen. Er hatte sich in all den Jahren nicht verändert, außer dass er die Gestalt eines Mannes angenommen hatte. So richtig lachen konnte Hanky nur mit seinem Großvater, den er über alles liebte. So besuchte Hanky ihn fast jeden Tag und hörte staunend immer wieder den gleichen Geschichten zu, die sein Grandpa ihm erzählte.
Nach einer Weile war seine Mutter aufgestanden und hatte leise den Stuhl zurück neben das Fenster an die Wand gestellt. Dann schlich sie aus dem Zimmer, löschte das Licht und schloss leise die Tür. Hanky war froh, dass sie nun endlich gegangen war, obwohl er ihre Anwesenheit sehr genossen hatte.
Gerne hätte er sich mit ihr unterhalten, ein richtiges Gespräch geführt, doch er wusste, dass er seine „alte“ Rolle weiterspielen musste. Gleich morgen früh würde er zu seinem Grandpa gehen und ihm von seiner Verwandlung berichten. Sein Großvater wusste bestimmt Rat, wie er das böse Ding jagen konnte. Sein Großvater würde ihm beistehen, er würde ihn nicht verraten.
Etwa sechzig Meilen entfernt parkte der Wagen Walt Kesslers auf einem kleinen Parkplatz, der an der Landstraße lag. Im Wagen saß das Ding und schaute durch die Augen Walts über die Felder und Wiesen. Morgennebel schwebte wie ein wattiger Ozean über dem Boden. Der Himmel begann sich im Osten schon leicht rötlich zu färben, ansonsten war er noch nachtblau. Von all dem sah das Ding nichts. Es versuchte sich wohlzufühlen. Es war satt, und eigentlich immer, wenn es satt war, fühlte es sich wohl. Doch nicht heute. Etwas war total anders, unverständlich und neu.
In der Nacht hatte das Wesen erfolgreich Jagd gemacht und seinem Opfer alle Lebensenergie genommen. Es war so leicht wie immer gegangen, aber dieses Mal hatte es ihm keinen Spaß gemacht, sein Opfer zu töten. Vor Wut über sein Unbehagen hatte das Ding sein Opfer furchtbar verstümmelt, als es schon längst tot neben dem Wagen lag. Das hatte aber auch keinen Spaß gemacht, und dann war das Ding auch noch durch einen anderen Wagen gestört worden. Normalerweise hätte es die Störenfriede ebenfalls beseitigt, doch ein Gefühl von Panik hatte es zur Flucht bewegt. Bestimmt hatten die Insassen - es waren zwei, dass hatte das Ding gespürt —, den Wagen von Walt erkannt. Doch nun war es zu spät. Es würde sich von seinem Gastkörper trennen müssen. Unauffällig musste ein neuer Gastkörper gefunden werden. In den Gedanken seines Gefangenen suchte das Ding nach einer Möglichkeit. Eine Stadt, ein belebter Platz mit vielen Menschen, würde der richtige Ort sein.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als Hanky aufstand. Er hatte nicht geschlafen diese Nacht, aber er fühlte sich trotzdem erfrischt und ausgeruht. Er zog seine üblichen Sachen an und betrachtete sich im Spiegel. Was er da sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Er sah aus wie ein Mann in einem Kinderkostüm. Für jetzt würde es gehen müssen, jedenfalls bis er aus seinem Heimatdorf hinaus war. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, immer so herumgelaufen zu sein. Sobald er in die nächste Stadt kam, würde er sein Aussehen verändern. So war er zu auffällig. So würden sie ihn schnell finden. Sie, das waren seine Eltern, die Polizei und eventuell auch die Zeitungen, die nach ihm suchen würden. Suchen nach einem behinderten jungen Mann, der sich nicht zurechtfand.
Doch das kam später. Für den Augenblick war er richtig gekleidet. In einem kleinen Regal mit seinen »Schätzen« stand auch eine alte Zigarrenkiste. Diese holte er hervor und klappte sie auf. Darin waren seine ganzen Ersparnisse. Es war nicht viel. Ab und zu hatte er dem einen oder anderen Bauern geholfen, Heu abzuladen, oder andere einfache Arbeiten verrichtet. Dafür hatte er dann ein bisschen Geld bekommen. Er hatte das Geld nie gebraucht und deshalb in der Zigarrenkiste aufbewahrt.
Hanky schüttete alles auf sein Bett und begann zu zählen. Diesmal konnte er zählen. Es machte Spaß zu zählen. Fünfundvierzig Dollar und zweiundsiebzig Cent. Zufrieden lächelnd steckte er seine Barschaft in die Hosentasche. Danach ließ er sich auf die Knie nieder und suchte unter dem Bett nach seinem Rucksack. Nach einer Weile zog er ihn hervor und ging zu seinem Wäscheschrank. Er packte etwas Unterwäsche, Socken und einen dickeren Pullover ein. Im Bad steckte er noch ein Stück Seife und die Zahnbürste in den Rucksack. Sein Blick fiel auf den Kamm, der auf dem Rand des Waschbeckens lag. Den Kamm hatte er nie benutzt, obwohl ihn seine Mutter immer wieder ermahnt hatte, sich zu kämmen. Mit einem Achselzucken packte er ihn ebenfalls ein. Er schaute sich noch einmal um und verließ dann das Bad. Leise ging er die Treppe nach unten. Aus dem Schlafzimmer seiner Eltern hörte er das leise Schnarchen seines Vaters. Zum Glück schliefen seine Eltern noch. Wenn sie aufwachten, würden sie Hanky nicht vermissen, da er meistens schon sehr früh zu seinem Großvater unterwegs war. In der Küche steckte er sich noch zwei Äpfel, ein Stück Wurst und ein halbes Brot in den Rucksack. Er trat durch die Hintertür ins Freie und realisierte in diesem Moment, dass er seine Kindheit hier zurücklassen würde. Das Gefühl, etwas Wertvolles verloren zu haben, drohte ihn zu überwältigen. So stand Hanky einen Moment, die Schultern gebeugt vor Kummer, im Garten seiner Eltern. Dann straffte er sich, richtete sich fast trotzig auf und schob den schmerzenden Gedanken entschlossen beiseite.
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