Während der letzten Sätze war Suska sehr ernst und schwieg anschließend einen Moment. Dann fügte sie hinzu: „Du wirst sie morgen sehen, wenn wir zu meinen Eltern fahren, und wirst dir selbst ein Bild von diesen scheinbar fröhlichen Szenen machen können. Von den Einheimischen werden sie übrigens Schwalben genannt.“
„Warum denn das?“ fragte Jan erstaunt, und Suska erklärte darauf: „Weil der Lärm von mehreren Tausend Stimmen wie das Zwitschern vieler Vögel klingt, wenn er von den hohen Häuserfassaden mehrfach zurückgeworfen wird.“
Beide lachten.
„Du fragtest, ob meine Mutter berufstätig sei,“ fuhr Suska dann fort. „Ja, zeitweise ist sie das; denn gelegentlich hilft sie auch noch meinem Vater bei den Büroarbeiten.“
„Und was macht dein Vater?“ fragte Jan erwartungsvoll.
„Der macht sauber,“ antwortete Suska und amüsierte sich über sein verdutztes Gesicht.
„Er macht sauber? Zu Hause?“ fragte er etwas irritiert. „Wie soll ich das verstehen?“
„Nein, nicht zu Hause,“ antwortete Suska, „ er hat eine Reinigungsfirma.“
„Was reinigt er denn,“ wollte Jan, zaghaft fragend, wissen.
„Alles Mögliche,“ war Suskas Antwort. „Er hat fast dreitausend Angestellte. Die genaue Zahl kann ich dir jedoch nicht sagen.“
„Was? So viele Leute sind bei ihm beschäftigt?“ staunte Jan. „Die müssen doch aber ständig Arbeit haben.“
„Die haben sie auch,“ erklärte Suska, jetzt ernst, und fügte hinzu: „Mein Vater hat, als er etwa zwanzig Jahre alt war, in seinem Beruf angefangen, erst ganz allein, wie er schon wiederholt erzählt hat. Und alles begann vor etwa fünfunddreißig Jahren mit dem Säubern eines Restaurants spät abends nach der Schließung. Inzwischen ist er fünfundfünfzig Jahre alt. Ja, und da er seine Arbeit damals zur vollen Zufriedenheit seines Auftraggebers gemacht hatte, wurde er an andere Geschäftsleute weiter empfohlen, und schon bald konnte er das Saubermachen nicht mehr allein schaffen. Er stellte einen Mitarbeiter ein und schon alsbald danach einen zweiten und einen dritten, und so wuchs sein Geschäft mit den Jahren auf etwa dreitausend Angestellte an.“
Suska schwieg einen Moment, und als Jan sie erstaunt und fragend anblickte, erzählte sie weiter, dass diese Angestellten in nahezu allen Stadtteilen von Hongkong eingesetzt würden. Es gäbe inzwischen mehr als zehn Verwaltungsstellen, deren Mitarbeiter sich um weitere Kunden bemühten, die geleisteten Arbeiten des Reinigungspersonals überwachten und abrechneten, die neue Reinigungskräfte einstellten, die Krankheitsfälle bearbeiteten, sich um Beschwerden der Kunden kümmerten und die alle Dinge erledigten, die bei einem derart großen Personalbestand so anfielen. Sie sei froh, dass ihr Vater in ihren zwei älteren Brüdern, die beide in der Firma arbeiteten, eine Unterstützung habe. Er allein würde es nach ihrer Einschätzung nicht schaffen, alles zu organisieren und zu kontrollieren. Sie und besonders ihre Mutter machten sich schon längere Zeit Sorgen um seine Gesundheit. Bereits gegen sieben Uhr morgens verlasse er in der Regel die Wohnung und fahre ins Büro, und erst gegen sechs oder sieben Uhr abends kehre er zurück; manchmal werde es auch acht oder neun Uhr. Sie frage sich, wie lange er das noch durchhalte.
„Mein Vater neigt zur Perfektion,“ ergänzte sie noch. „Er möchte über alles informiert sein, was in der Firma passiert, und er legt größten Wert darauf, dass jeder seine Arbeit ordentlich macht. Nachlässigkeit und Unordentlichkeit mag er überhaupt nicht. Wenn sich gute Kunden beschweren, sucht er sie persönlich auf und bespricht die Angelegenheit mit den Chefs. Und meistens gelingt ihm auch, diese zu beschwichtigen und sie von einem Wechsel der Reinigungsfirma abzubringen.“
Suska lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte Jan an.
„So, jetzt kennst du meinen Vater schon etwas,“ sagte sie, „aber du brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Er ist ein gutmütiger Familienmensch, der Unannehmlichkeiten innerhalb der Familie überhaupt nicht mag, schon gar nicht, wenn sie in irgendeiner Weise mit mir zusammenhängen. Ich bin nämlich sein Nesthäkchen, das er rundherum beschützen und immer glücklich sehen möchte und dem möglichst kein Wunsch abgeschlagen werden darf. Aber ich nutze diese Schwäche von ihm nicht aus. Und das weiß er auch. Das ist sicher ein Grund mit, weshalb er mir gegenüber so weich und nachgiebig ist. Auf den ersten Blick macht er einen ziemlich reservierten Eindruck, jedenfalls bei der Begegnung mit einem Menschen, den er noch nicht kennt. Wenn er aber jemand mag, zeigt er das durch scheinbare Kleinigkeiten. Achte mal darauf.“
Jan hatte Suska fasziniert zugehört, und nach einer Weile des Schweigens fragte er: „Aber sag mal, wo werden denn die vielen Mitarbeiter deines Vaters eingesetzt?“
Suska lachte und antwortete: „Sieh mal aus dem Fenster. Viele Hotels rund herum, öffentliche Gebäude und Geschäfte und sehr viele Fenster, zum Teil sehr große, die alle von Zeit zu Zeit gesäubert werden müssen. Da überall werden die Angestellten meines Vaters beschäftigt. Es gibt Gruppen, die nur auf die Reinigung von Hotels spezialisiert sind, andere auf die Reinigung von Krankenhäusern, von Verwaltungsgebäuden und Museen, von großen und kleinen Geschäften, von Restaurants und von Tausenden von Fenstern. Sogar große Bereiche des Flughafens werden von der Firma meines Vaters betreut, und du wirst es kaum glauben, auch an der Reinigung der Straßen und Parks ist er beteiligt. Es gibt in Hongkong zwar mehrere Reinigungsfirmen, aber die meines Vaters ist die größte.“
Als Jan sie staunend anblickte, ergänzte sie schmunzelnd: „Und jetzt möchtest du sicher noch etwas mehr über meine Mutter wissen.“
Jan lächelte nur und schwieg.
„Sie ist fast das Gegenteil von meinem Vater, sie ist fremden Menschen gegenüber von Anfang an aufgeschlossen und unbekümmert und hat die Fähigkeit, freimütig auf sie zuzugehen. Wenn du mit ihr nicht auskommst, hast du es selber Schuld,“ charakterisierte Suska ihre Mutter. „Sie hat die Gabe, jeden Menschen so zu nehmen, wie er ist, solange er ihr gegenüber nicht beleidigend und anstößig wird. Ihre Familie ist ihr Ein und Alles. Na ja, in einigen Stunden wirst du beide kennen lernen.“
„Von wem hast du denn, was dein Wesen anbetrifft, das Meiste geerbt?“ fragte Jan und blickte sie erwartungsvolle an.
„Von beiden etwas, meine ich jedenfalls,“ lachte Suska. „Aber im Wesen schlage ich wohl mehr auf meine Mutter. Die Gründlichkeit habe ich allerdings von meinem Vater geerbt. Aber beurteile du es morgen und an den nächsten Tagen selbst.“
Als nach etwa einer Stunde die Bezahlung anstand, bat sie den Ober in chinesischer Sprache, den zu zahlenden Betrag auf die Zimmerrechnung zu setzen. Jan bekam das nicht mit, und als er Suska deshalb fragend anblickte, lächelte sie nur und erklärte, es sei alles in Ordnung. Ihr Vater hatte ihr nämlich gesagt, dass er die Hotelrechnung übernehmen wolle. Davon sagte sie Jan jedoch nichts.
„Jetzt geht es los,“ strahlte sie ihn an, „jetzt hinein ins brodelnde Nachtleben von Hongkong.“
Jan schmunzelte nur, als sie das sagte.
Beide verließen den Frühstücksraum und suchten das Foyer auf, wo Suska ihn kurz das Restaurant links vom Eingang zeigte und beide auch einen Blick in das große Hallenbad warfen.
„Wenn du mal Langeweile hast und schwimmen möchtest, kannst du es dort tun,“ meinte sie, „aber ich glaube, dass du zum Schwimmen kaum Zeit haben wirst.“
Dann verließen sie das Hotel, überquerten auf einem Fußgängerüberweg mit einer Ampel die stark befahrene Salisbury Road und begaben sich, vorbei am Kulturzentrum, auf die Promenade, die mehrere hundert Meter am Meer entlang führte und von der aus sie einen atemberaubenden Blick auf die Skyline von Hongkong Island hatten. Als sie am Anfang der Promenade an einem Uhrenturm vorbei kamen, klärte Suska ihn auf, dass der zu einem früheren Kolonialbahnhof gehört habe, der vor Jahren für das Kulturzentrum habe weichen müssen.
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